Die Schweiz riskiert ihren neutralen Status

Der Völkerrechtswissenschaftler Alfred de Zayas warnt vor einem Nato-Verbindungsbüro in Genf und vor dem Schweizer Kuschelkurs gegenüber der Nato

Der Völkerrechtswissenschaftler Alfred de Zayas befürchtet, dass der „Dreifrontenkrieg der atlantischen Falken mit der Nato in Europa, in Fernost und im Nahen Osten inzwischen auch ehemals neutrale Musterstaaten wie die Schweiz in ihren Weltkrieg“ hineinzieht. Die Schweiz setze ihren neutralen Status ernsthaft aufs Spiel. Ihr „Kuschelkurs“ gegenüber der Nato sei eine ethische und rechtliche Verirrung. In einem Offenen Brief warnt er jetzt den Schweizer Bundesrat davor, in Genf ein Nato-Verbindungsbüro einzurichten, und weist darauf hin, dass die Nato zur „kriminellen Organisation” geworden ist. Das ursprüngliche Verteidigungsbündnis sei verkommen zu einer Organisation für Krieg und Kriegstreiberei, sei eine Bedrohung für die Sicherheit anderer Staaten und habe ihre Verbrechen völlig ungestraft begangen. Bekannt geworden ist das Verbindungsbüro-Vorhaben im April (siehe hier und hier). 

Alfred de Zayas ist Juraprofessor an der Genfer Hochschule für

Alfred de Zayas

Diplomatie und diente von 2012 bis 2018 als unabhängiger Uno-Experte für die internationale Ordnung. Er ist Autor von zwölf Büchern, darunter “Building a Just World Order” (2021), „Countering Mainstream Narratives” 2022 und „The Human Rights Industry” (Clarity Press, 2021). Seinen Brief gebe ich hier im Wortlaut wieder. Die Überschrift und die Zwischenüberschriften sind von mir eingefügt.

Ein schlechter Rat

Von Prof. Dr. Dr. Alfred de Zayas

Sehr geehrte Frau Bundespräsidentin Frau Viola Amherd, sehr geehrter Herr Bundesrat und Außenminister Herr Ignazio Cassis, der Vorschlag, in Genf ein Verbindungsbüro der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) einzurichten, wäre ein schlechter Rat. Die Schweiz wurde seit dem Wiener Kongress im Jahr 1815[1] zu einem neutralen Land. Ihr wohlverdienter Ruf als verantwortungsvoller Staat und ehrlicher Makler steht jetzt auf dem Spiel. Die Idee, dieses Verbindungsbüro im Maison de la Paix – im Haus des Friedens – einzurichten, stellt eine Beleidigung für alle Schweizer Bürger und alle UNO-Beamten, die sich seriös für den Weltfrieden einsetzen [2], dar.

Die Schweiz setzt ihren neutralen Status ernsthaft aufs Spiel

Ein solcher Vorschlag kann nur als Orwell’sches Oxymoron (Widerspruch in sich) bzw. als Parodie auf ein Friedenskonzept angesehen werden. Die Schweizer Bevölkerung hat nie über so eine Annäherung an die NATO abgestimmt. Persönlich bin ich als „Neu-Schweizer seit 2017″ beunruhigt: Meine Sorge und die vieler anderer neu Eingebürgerter ist, dass die Schweiz ihren neutralen Status ernsthaft aufs Spiel setzt, wie es bereits beim unklugen „Gipfel für den Frieden in der Ukraine” [3] am 15. und 16. Juni 2024 auf dem Bürgenstock geschehen ist: Das war kein ernsthafter Versuch einer Friedensverhandlung, um tragfähige Lösungen für reale Probleme zu finden, vielmehr leider nur ein Propagandaspektakel im Namen von NATO und ihrer Vasallen[4]. Es war noch weniger als nutzlos – es war schlicht kontraproduktiv.

Verkommen zu einer Organisation für Krieg und Kriegstreiberei

Seit der Auflösung des Warschauer Paktes im Jahr 1991[5] kann die NATO nicht mehr vorgaukeln, ein legitimes Verteidigungsbündnis darzustellen. Das Bündnis ist zu einer Organisation für Krieg und Kriegstreiberei verkommen. Tatsache ist, dass die NATO versucht, die Funktionen der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu usurpieren, was jedoch gemäß Kapitel VII der UN-Charta unter ausschließliche Domäne nur der UNO fällt. Als regionale Organisation fällt die NATO nicht unter Artikel 52 der UN-Charta, da sie weit entfernt von den in Artikel 1 und 2 der Charta niedergelegten Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, in einer Weise handelt, die im Widerspruch zu den Zielen der Vereinten Nationen steht.

Eine Bedrohung für die Sicherheit anderer Staaten

Seit 1997 ist die NATO eine Organisation, die systematisch andere Staaten provoziert und damit eklatant gegen Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta verstößt, der nicht nur die „Anwendung von Gewalt”, sondern auch die Androhung von Gewalt verbietet. Zweifelsohne stellt jede NATO-Erweiterung eine Bedrohung für die Sicherheit anderer Staaten dar. Über die letzten 30 Jahren haben wir mit wachsender Sorge die Implementierung der NATO-Strategie zur Einkreisung anderer Staaten mitansehen müssen. Das stellt eine vorsätzliche Provokation und Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Sinne von Artikel 39 der UN-Charta, dar.

Seit 1999 entwickelt zu einer „kriminellen Organisation“

In jüngster Zeit hat die megalomanische (größenwahnsinnige) Idee der NATO, sich auf den asiatisch-pazifischen Raum auszudehnen, die bereits angespannte Lage in dieser Region verschärft. In einem sehr realen Sinn hat sich NATO seit 1999 zu einer „kriminellen Organisation” gemäß Artikel 9 und 10 des Statuts des Nürnberger Militärgerichtshofs (Londoner Abkommen vom 8. August 1945)[6] und des Nürnberger Urteils von 1946 entwickelt. Es gibt solide Berichte und wissenschaftliche Studien, die zuverlässig die traurige Tatsache dokumentieren, dass NATO-Streitkräfte Verbrechen gegen den Frieden (Art. 6a, Nürnberger Statut), Kriegsverbrechen (Art. 6b) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 6c) begangen haben.

Die Verbrechen völlig ungestraft begangen

Die Nato hat diese Verbrechen u.a. bisher in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien etc., völlig ungestraft, begangen. Aus diesem Grunde sollte der Internationale Strafgerichtshof gemäß Artikel 5, 6, 7 und 8 des Römischen Statuts Ermittlungen gegen die verantwortlichen Politiker und Militärs der Nato einleiten lassen.

Schweizer Kuschelkurs gegenüber der Nato eine ethische und rechtliche Verirrung

Als ehemaliger hoher Beamter des Amtes des Hochkommissars für Menschenrechte, Sekretär des Menschenrechtsausschusses und Leiter der Petitionsabteilung sowie als ehemaliger unabhängiger Experte des Menschenrechtsrates für die internationale Ordnung bin ich erstaunt, auf welch‘ schlüpfriges Terrain sich die Schweiz mit ihrem „Kuschel-Kurs” gegenüber NATO eingelassen hat. Dies ist nichts weniger als eine ethische und rechtliche Verirrung.

Sehr geehrte Bundespräsidentin Viola Amherd, bitte setzen Sie sich mit aller Kraft für die Neutralität der Schweiz ein und stellen Sie die Autorität und Glaubwürdigkeit der Schweiz als Friedensvermittlerin wieder her. Weitere Informationen zu den rechtlichen und historischen Fragen finden Sie in meiner Trilogie über Menschenrechte: CLARITY PRESS, Inc. und Mr. Alfred-Maurice de Zayas, former Independent Expert (2012-2018)

Hochachtungsvoll,

Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Genfer Schule für Diplomatie
Mitglied des Beirats des Internationalen Friedensforschungsinstituts Genf

Der Schweizer Bundesrat
Foto: Bundeskanzleramt Schweiz / Sina Guntern

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 [1] https://www.swissinfo.ch/eng/foreign-affairs/focus-page-foreign-policy_how-neutral-is-switzerland-really/45810276https://www.history.com/news/why-is-switzerland-a-neutral-countr
[2] https://lecourrier.ch/2024/06/20/lotan-nest-pas-la-bienvenue-a-geneve/
[3] https://www.eda.admin.ch/eda/en/home/das_eda/aktuell/dossiers/konferenz-zum-frieden-ukraine.html
[4] https://www.counterpunch.org/2024/06/21/on-the-burgenstock-peace-conference/
https://schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-en-schweiz/the-burgenstock-summit-can-be-successful-but-only-without-zelensky-and-cassis.html
[5] https://www.nato.int/cps/en/natohq/declassified_138294.htm
[6] https://www.roberthjackson.org/article/london-agreement-charter-august-8-1945/

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