Der Staat und die Menschenrechte seines Volkes

Kann die Ukraine völkerrechtlich verpflichtet sein, im Krieg mit Russland eine Verhandlungslösung zu suchen? Besteht gegenüber der eigenen und  mitbetroffenen Bevölkerung anderer Staaten eine Leidensminderungspflicht?

Von Prof. Dr. iur. Menno Aden

In diesen Tagen gab es eine Diskussion in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Frage,  ob die Ukraine  ethisch oder völkerrechtlich verpflichtet sein könnte, eine Verhandlungslösung zu suchen. Darum geht es in meinem folgenden Beitrag. Im Anschluss an eine Veröffentlichung  im Recht der internationalen Wirtschaft Anfang 2022 unter dem Titel Wirtschaftssanktionen und  Menschenrechte trage ich vor, dass auch das nach Artikel 51 der UN-Charta bestehende Recht zur Selbstverteidigung unter dem Vorbehalt der Menschenrechte steht und zu einer völkerrechtlichen Leidensminderungspflicht gegenüber der eigenen und  mitbetroffenen Bevölkerung anderer Staaten führen kann. Ich nehme an, dass dieser  rechtswissenschaftlich gemeinte Beitrag auch für Nichtjuristen verständlich ist.

Die Fragestellung

Unter dem Titel Verhandeln heißt nicht kapitulieren (FAZ vom 28. Dezember 2022) hat Reinhard Merkel eine Pflicht der ukrainischen Regierung postuliert, über die Beendigung des Krieges Verhandlungen ex bello zu akzeptieren.  Das sei zwar kein unmittelbares Gebot des Völkerrechts, wohl aber eines der politischen Ethik.  Der Gedanke ist auf Widerspruch gestoßen (z.B. Helmut Philipp Aust, FAZ vom 2. Januar 2023): Aus dem Völkerrecht lasse sich keine Verhandlungspflicht der Ukraine herleiten. Diese Kontroverse führt zu folgenden grundsätzlichen Überlegungen.

Der Adressatenkreis des Völkerrechts

Das Völkerrecht wendet sich an Völkerrechtssubjekte, also Staaten und staatsgleiche Organisationen.  Nur diese werden durch das Völkerrecht aktiv und passiv legitimiert. Das in Artikel 51 der UN-Charta anerkannte naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung ist also ein Recht nur des angegriffenen Staates A, das von der Regierung von A ausgeübt wird. Die Bevölkerung des angegriffenen Staates A als solche ist nicht Gegenstand des Völkerrechtes und hat ein solches Selbstverteidigungsrecht nicht. Die Frage, ob die Regierung von A Maßnahmen des Staates B als Angriffshandlung werten und sich folglich auf Artikel 51 der UN-Charta berufen darf, ist also nach zwei Seiten zu stellen und kann unterschiedlich beantwortet werden.

  • Völkerrechtlich: Was ist eine Angriffshandlung? Welche Maßnahmen sind zulässig? Bis zu welchem Grade ist militärischer Widerstand erlaubt? Darf im Rahmen der Verteidigung fremdes Territorium besetzt und die Bevölkerung vertrieben werden? Dürfen offene Städte bombardiert werden? Wie sind Gefangene zu behandeln?  usw. Hierauf geben Artikel 51 und als Spezialregelung das Kriegsvölkerrecht eine völkerrechtliche Antwort.
  • Nationales Recht: Ist die Regierung von A nach dem eigenen nationalen Verfassungsrecht gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung befugt, militärischen Widerstand zu leisten und einen Krieg zu führen bzw. ihn trotz der damit verbundenen Leiden der Bevölkerung fortzusetzen. Artikel 115a des Grundgesetzes (Feststellung des Verteidigungsfalles) hat eine durchaus andere Reichweite als Artikel 51 der UN- Charta.

Volk und Bevölkerung als Gegenstand des Völkerrechts

Rechtsgeschichtlich wurde das ius ad bellum im Rahmen der Frage nach der Souveränität eines Staates definiert, ohne Rücksicht auf Bedürfnisse der Bevölkerung oder gar der Menschenrechte. Die Gesamtheit der Konventionen im Zusammenhang mit der Gründung und Aktivierung der Vereinten Nationen und der weiteren Entwicklung des weltweit greifenden humanitären Völkerrechts lässt nun keinen Zweifel daran, dass in der Wertehierarchie des Völkerrechts   die Menschenrechte den Eigeninteressen der einzelnen Staaten (Souveränität, Territoriale Unverletzlichkeit, Militärische Übungen usw.)  vorgehen.  Das war bereits die völkerrechtliche Legitimation für die Abhaltung der Nürnberger Prozesse in Deutschland nach 1945. Schon unter der Herrschaft der UN-Charta war das trotz Artikel 2 Nr.7[1] die Legitimation der Weltgemeinschaft, die Apartheidpolitik in Südafrika als Verstoß gegen das Völkerrecht zu qualifizieren. Hieraus ist die Forderung abzuleiten, dass jede Betätigung der Souveränität eines Staates, auch der Gebrauch militärischer Gewalt nach Artikel 51, ebenso wie jede Unterlassung menschenrechtlich gebotener Handlungen,[2]  auch unter dem Vorbehalt bzw. der Maßgabe der höherrangigen Geltung der Menschenrechte zu beurteilen ist.  Es ist daher ein Völkerrechtssatz etwa wie folgt zu postulieren.

Das Recht gemäß Artikel 51 der UN-Charta steht unter der Bedingung einer Abwägung zwischen dem erga omnes bestehenden Recht des Krieg führenden Völkerrechtsobjektes auf Wahrung seiner Staatlichkeit und seiner Pflicht gegenüber der eigenen und mitbetroffenen  Bevölkerung anderer Staaten,  vermeidbare Leiden zu vermeiden bzw. abzukürzen.

Hölderlin: Das hat den Staat zur Hölle gemacht …

Das Recht eines Staates, sich gegen einen Angriff zu verteidigen, folgt danach aus einer Güterabwägung  zwischen   seinem  ius ad bellum und seiner Leidensminderungspflicht gegenüber seiner  als Rechtssubjekt gedachten Bevölkerung.[3]  Hieraus entsteht die grundsätzliche Frage nach der Funktion des Staates: Hat dieser einen von seiner Bevölkerung unabhängigen,  gleichsam  metaphysischen Selbstzweck? Oder ist er ausschließlich um seiner Einwohner willen da? Denn „Das hat den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“  (Friedrich Hölderlin)

Eine vergleichbare Frage stellt sich in den vielen Jahrhunderten der Kirchengeschichte: Hat die Kirche  einen eigenen von menschlichen Bedürfnissen abgelösten,  metaphysischen Daseinszweck oder ist sie  nur der Gläubigen wegen da? Jesus neigte wohl zu Letzterem, wenn er meinte, dass der Sabbat um des Menschen willen da sei (Markus 2, 27),

Eine weitere Folgerung wäre, dass Hilfsmaßnahmen nicht kriegsbeteiligter Staaten gegenüber dem angegriffenen Staat im Zweifel nur im Rahmen von humanitärer Hilfe vor-gemäß sind, weil die Lieferung von Kriegswaffen und so weiter zwar die Souveränität des angegriffenen Staates stützt, aber im Zweifel die Leiden der kriegsbetroffenen Bevölkerung verlängert.

Ergebnis

Es kann hier nicht entschieden werden, ob die Regierung der Ukraine eine Pflicht habe, in Verhandlungen mit Ihrem Kriegsgegner Russland einzutreten.  Aber neben der anzunehmenden Pflicht der ukrainischen Regierung gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung, alle Maßnahmen zur Leidensminderung und -verkürzung zu ergreifen, ist auch eine völkerrechtliche Pflicht gegenüber anderen Staaten und deren Bevölkerungen, die durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen werden können, durch Verhandlungen auf ein Ende des Krieges hinzuwirken.

 

PS. Eine erweiterte ergänzende Fassung dieses Beitrags hat der Autor auf seiner Web-Seite hier veröffentlicht: Microsoft Word – Staatszweck und Menschenrechte.docx (dresaden.de)

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[1] Art. 2 Nr. 7: Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, …nicht abgeleitet werden.

2 Rechtsverweigerung bzw.- verkürzung gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen, Kurden, Palästinensern usw.

3 Hierzu  das Postulat der Völkerrechtssubjektivität der Menschheit  (Völkerrechtssubjektivität der Menschheit– ein Diskussionsanstoß ZVglRWiss Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 2006,  55 f ).

Prof. Dr. iur. Menno Aden (Jahrgang 1942, Abitur 1962) hat Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn studiert (1963 bis 1967), wurde 1972 in Bonn promoviert, war in den Jahren 1971/72 Senior Research Officer am Institut für Rechtsvergleichung der Universität von Südafrika, war beruflich tätig in der Energie- und Kreditwirtschaft und von 1994 bis 1996  Präsident des evangelisch-lutherischen Landeskirchenamtes in Schwerin, dann bis 2007 Professor an der FH für Ökonomie und Management in Essen. Verheiratet, fünf Kinder. Er hat neben seiner Lehrtätigkeit zahlreiche Schriften im Bereich Bank-, Wirtschafts- und internationales Recht verfasst, auch theologische Schriften und Bücher zu anderen Themen. Aus dem „Klappentext“ eines seiner Bücher: „Etliche berufliche Einsätze in aller Welt führten ihn immer wieder zu der Frage, wie es den Vereinigen Staaten von Amerika gelingen konnte, über viele Kriege hinweg zur imperialen Macht aufzusteigen, anderen Nationen – wie zum Beispiel Deutschland –  aber den Ruf eines „Störenfrieds der Weltordnung“ anzuhängen.“  Weiteres über Aden siehe hier.  Seine Web-Seite hier:  http://www.dresaden.de/index.html

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