Russland im Vordergrund, China im Hintergrund
Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist von großer Tragweite und hat andere Themen verdrängt. Viele kundige Beobachter fühlen sich auch außerhalb der Politiker- und Journalisten-Szene gedrängt, das Geschehen zu kommentieren. Einer von ihnen ist Prof. Dr. iur. Menno Aden, der sich in Beiträgen und Büchern immer wieder auch zu politischen Themen äußert. Noch vor dem russischen Angriff hatte er einen Gastbeitrag geschrieben mit dem Titel „Russland in der Sackgasse – Amerikas Chance gegen China“ (hier). Meine Einleitung trug die Überschrift „Wer will Krieg? Russland oder die USA?“ Professor Aden hat sich zum Thema Russland/Ukraine jetzt abermals geäußert. Er hatte einen Militärschlag Russlands wie jetzt geschehen für ausgeschlossen gehalten. Nun korrigiert er sich. Auch diesen Beitrag von ihm stelle ich zur Diskussion. Die Überschrift stammt von mir.
Glaubenskrieg – Benennung des Bösen als Angstbewältigung – Um was es eigentlich geht – Bullenfalle – Muster der amerikanischen Interventionen – Chinafalle – Und die USA?
Gastbeitrag von Prof. Dr. iur. Menno Aden
In diesen Tagen Ist geschehen, was wohl die allermeisten Beobachter für unmöglich gehalten hätten – Russland ist in die Ukraine einmarschiert und hat damit die Gefahr eines nicht nur europäischen sondern vielleicht sogar neuen Weltkrieges heraufbeschworen. Auch ich habe in meinem Internet-Beitrag vom 13. Februar diese Möglichkeit praktisch ausgeschlossen, indem ich als Ausblick zusammengefasst habe:
„2. Schritt: Erste Alternative: Putin lässt marschieren. USA schießt zurück; Schuld sind die Russen. Es kommt zum Krieg: USA bleibt Sieger. Zweite Alternative: Im Zweifel wird kein russischer Staatsmann auf die US-amerikanischen Provokationen mit einem Militärschlag antworten. Man weiß dort, dass Russland verlieren würde.
In beiden Alternativen ist Russland als Weltmacht praktisch erledigt. Die Tatsache, dass Russland angesichts der erniedrigenden Provokationen wie ein geschlagener Hund den Schwanz einzieht, wird zu einem weiteren Ansehensverlust der Russen führen. Die Staaten rund um Russland geraten noch tiefer unter amerikanische Hegemonie.“ Ich habe mich also insofern geirrt.
Man kann mir vorwerfen, was in Reaktion auf meine Internet Ausführungen auch ante und post festum mehrfach geschehen ist, dass ich den massiven russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze nicht als ernstgemeinte Kriegsvorbereitung gedeutet habe. An meiner weiteren Voraussage halte ich fest: Putin ist in eine Falle getappt. Die Folge dieses Schlages wird sein, dass Putin/Russland als Weltmacht praktisch erledigt werden wird.
In der Meinung vieler meiner Korrespondenten bin ich damit als Putin-Versteher entlarvt, was derzeit so viel bedeutet wie Befürworter der russischen Aggression. Es ist mir eigentlich zu dumm, dem zu widersprechen. Wer sich aber nicht von der augenblicklichen Empörung über den russischen Staatspräsidenten und der zweifellos berechtigten Angst vor einem neuen großen Krieg die Augen verbinden lässt, kann meine folgenden Ausführungen zur Kenntnis nehmen, die ich wie immer nicht als letzte Wahrheit ausschreie, sondern zur Diskussion stelle.
I. Glaubenskrieg
Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine bestätigt offenbar den Verdacht, dass der russische Staatspräsident Putin ein Verbrecher ist, ein verantwortungsloser Politiker, der sein eigenes Land und die Welt an den Rand eines neuen Weltkrieges führt, um – so ist eine verbreitete Sicht – sich für die Geschichte einen Platz neben Peter dem Großen zu sichern. Damit ist der Weg frei, diesem Mann alle Eigenschaften zuzusprechen, welche bisher für Hitler reserviert waren. Nach allem, was man bisher erkennen kann, muss man wirklich sagen: Das dürfte stimmen!
Bei uns Deutschen hat sich aber eine Art Glaubenskrieg entwickelt. Glaubenskriege, so haben wir in unserem christlichen Abendland oft und leidvoll erfahren, zeichnen sich dadurch aus, dass widerstreitende Behauptungen aufeinander prallen, die letztgültig weder bewiesen noch widerlegt werden können und durch ein Dictum der Hl. Inquisition beendet werden: Wer das nicht corde sincero et fide non ficta (so die Widerufsformel von Galilei) glaubt, ist ein Ketzer. Der in München tätige russische Dirigent Gergiev soll sich nun von Putin „distanzieren“, sonst, so der SPD-Oberbürgermeister, könne er nicht länger Chefdirigent unserer Philharmoniker bleiben (FAZ vom 26. Februar 2022, Seite 11). Das ist bereits dienstrechtlich eine Ungeheuerlichkeit, haben doch die Einstellung zu Putin und die Qualität als Dirigent nichts miteinander zu tun. Besser als vieles andere zeigt dieser Ausfall des OB, wie leicht wir Deutschen uns in geistige Verwirrung stürzen (lassen). Putin ist also ein Verbrecher, der Böse, wer das nicht glaubt anathema sit – der sei verflucht!
II. Benennung des Bösen als Angstbewältigung
Wer jetzt noch ein Aber hinterherschiebt, macht sich der Ketzerei verdächtig. Geschichte und Politik verlaufen aber nicht monokausal und sind selten oder nie das alleinige Werk eines Individuums, wie mächtig es auch sei. Handlungen eines Mächtigen, die nach bürgerlichen Grundsätzen strafbar und unethisch oder auch verbrecherisch sind, erweisen sich im Laufe der Geschichte oft als eine Art Vollzug eines überindividuellen Geschehens. Die Art wie Abraham Lincoln die Südstaaten reizte, den ersten Schuss im Amerikanischen Bürgerkrieges zu feuern (Stichwort: Fort Sumter), war als individuelle Handlung betrachtet moralisch auf jeden Fall anfechtbar, wenn nicht gar verbrecherisch. Sie tritt aber in der heutigen Wahrnehmung hinter dem als wohltätig empfundenen Ergebnis dieses überaus blutigen Krieges zurück. Die heutigen Franzosen sind stolz auf ihr lateinisches Erbe und vergessen darüber, mit welcher für damalige Verhältnisse unglaublichen Grausamkeit der berühmte Julius Cäsar ihre Vorfahren abgeschlachtet und deren Kultur und Sprache vernichtet hat. Es ist also bei geschichtlichen Verläufen sinnvoll, es nicht bei dem individuellen Urteil gut/böse zu belassen, sondern auch die tiefer liegenden Kräfte zu bedenken, aus denen der Gottheit lebendiges Kleid (Goethe) gewebt wird. Sie sind immer auch Ausprägungen der Welt, in der sie geschehen.
Im letzten Grund sind Glaubenskriege Bewältigungsmechanismen, um eine tief sitzende, aber nicht genau zu benennende Angst zu bannen, sei es – wie in Zeiten der Hexenverfolgungen und Religionskriege – die Angst vor einem Gott, der den zermalmen wird, der das Falsche glaubt, sei es – wie in unserem Zeitalter – die Angst vor einem alles zerstörenden Krieg. Diese Angst und damit die sie verursachenden Umständen, so bilden wir uns ein, können dadurch gebannt werden, dass man den Bösen personifiziert und ihm einen Namen gibt – Hitler, Stalin oder nun Putin. Wenn man diesen Bösen vernichtet, dann ist, wie der US-Präsident Biden nach der (meines Erachtens ziemlich rechtswidrigen) Tötung eines angeblichen Terroristen verkündete, die Welt besser geworden. Ist sie aber nicht, wie Mephisto spöttisch sagt: Den Bösen sind sie los, das Böse ist geblieben.
III. Um was geht es eigentlich in der Ukraine?
Auch wenn daher nun wohl kein Zweifel mehr möglich ist, dass Putin ein verantwortungsloser Staatsführer ist, sind wir der Lösung der Ukraine-Krise noch nicht sehr viel näher gekommen. Die Überzeugung, dass Putin ein Verbrecher usw. sei, ist für die Beurteilung des Ukraine-Konflikts genauso unerheblich wie der von manchen geäußerte Verdacht, dass Biden altersdement sei. Es geht nicht um Personen, sondern um die Interessen großer machtbewusster Staaten. Wer die amerikanische Verlautbarungen der letzten Jahre nur etwas verfolgt hat, wer in insbesondere das Kabul-Debakel der USA (mein Internet-Beitrag vom 22. August 2021, hier) noch nicht vergessen hat, wer sich den immer wieder bekräftigten Führungsanspruch der USA vor Augen hält (vgl. meinen Internet-Beitrag vom 3. Mai 2021), und wer darauf achtet, wie oft China – Bashing und Putin- Bashing in dortigen Verlautbarungen in einem Atemzug genannt werden, kann eigentlich nicht daran zweifeln, dass es im Ukraine-Konflikt eigentlich um etwas ganz anderes geht als um die Ukraine.
IV. Bullenfalle*
Ich habe daher zur Diskussion gestellt, dass Putin in eine von den USA gestellte Falle getappt ist. Diese könnte etwa wie folgt ausgesehen haben: Für einen russischen Staatsführer ist die Aussicht, nach dem Baltikum und Polen auch noch die Ukraine in der Nato zu sehen, erschreckend. Aus USA- Sicht aber ist eine Ukraine in der Nato vielleicht nicht einmal wünschenswert, denn anstelle einer Option, wie jetzt, bestünde eine Pflicht zum Handeln, wenn es dort kracht. Russlands kann aber durch die in Polen und in Ramstein stationierten amerikanischen Raketen ebenso, vielleicht sogar besser in Schach gehalten werden als von einem Nato-Staat Ukraine, der nach verbreiteten Urteil ziemlich korrupt und politisch fragil ist.
Aus amerikanischer Sicht geht es auch in der Ukraine eigentlich nur um China, den einzigen ernsthaften Mitbewerber um den ersten Platz in der Welt. Um China zu treffen, ist es nützlich, der Welt zu zeigen, dass Chinas einziger Verbündeter, nämlich Russland, genau das ist, was der frühere amerikanische Präsident Obama nicht sehr diplomatisch ausdrückte – nämlich nur eine Regionalmacht.
Putins Krieg gegen die Ukraine hat nach verbreitetem Urteil vielleicht auch, aber nicht hauptsächlich die Wiedergewinnung der Ukraine für den russischen Machtbereich zum Ziel, sondern die Verhinderung ihrer Nato-Mitgliedschaft Wenn meine Überlegungen richtig sind, führt Putin einen falschen Krieg, aber einen Krieg, der in das geostrategische Kalkül der USA sehr gut passt. Ich bleibe nämlich bei meiner Meinung, dass Russland sich durch diesen Krieg diplomatisch und auch militärisch als Weltmacht disqualifiziert hat, und zwar auch schon jetzt, und mit jedem Tag, den der Ukraine-Krieg dauert, mehr.
V. Diskussionsangebot
Wir Deutschen wollen solche Überlegungen oft nicht nachvollziehen. Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wir bewerten die Bäume, also die handelnden Großpolitiker der Weltpolitik wie Putin, Biden, Xi und andere, nur als Personen und finden sie gut oder böse, aber wir sehen nicht den Wald, also die geostrategischen Ziele, in Bezug auf welche diese „Bäume“ Interagieren.
Was ich in meinem Internet-Beiträgen schreibe, sind Diskussionsangebote, um auf die Existenz des „Waldes“ hinzuweisen. Darauf kann man verschieden reagieren. Die einen werfen mir geistesverwirrten Antiamerikanismus vor, andere finden das, was ich sage toll. Mit beidem ist der Wahrheit nicht gedient. Die einfachste Methode, mit einer Gegenmeinung umzugehen ist seit jeher, den Gegner für verwirrt zu halten, der ist ein Ketzer – Thema rum! Dann lohnt sich das Gespräch wirklich nicht. Ein kritikloses Lob, hilft ebenfalls nicht weiter. Die Sache ist dazu eigentlich wirklich zu ernst.
VI. Muster der US-Interventionen
In meinem Buch Imperium Americanum finden sich mehrere Beispiele, welche sehr gut in das Muster der (Bullen-)Falle passen, wie ich es in dem Ukraine-Konflikt vermute. Man inszeniert einen Vorfall, der Gegner schießt zuerst – und dann heißt es: Seht den Verbrecher! Das ist übrigens eine Beobachtung, die Theodor Mommsen auch in Bezug auf den römischen Imperialismus gemacht hat: Unter die Kriegsvorbereitungen Roms gehörte auch,……,sich die Rolle des angegriffenen Teils zu reservieren. Ich glaube, dass man die Ukraine-Vorgänge so sehen kann; vgl. den suspekten Umsturz auf dem Maidan 2014 (Wikipedia: Raymond Mc Govern:
„Also, unterm Strich: Es war ein vom Westen gesponserter Putsch. Es gibt kaum Zweifel daran. Und wie das vor Ort organisiert wurde, das wissen wir vom Bericht des estnischen Außenministers für Catherine Ashton, die so etwas wie eine EU-Außenministerin ist. Er sagte zu ihr: ‚Wussten Sie, dass laut Aussage von Ärzten in Kiewer Krankenhäusern, die gleichen Geschosse aus den gleichen Waffen von den gleichen Scharfschützen nicht nur die Polizei, sondern auch die Demonstranten trafen?‘ Nun, wer waren die Scharfschützen? Es waren agents provocateurs.“ O-Ton Raymond McGovern, übersetzt durch Doris Pumphrey)
Natürlich kann man das auch anders sehen. Ich wäre wirklich froh, wenn ich widerlegt würde. Denn meine wirkliche Sorge geht doch dahin, dass die Sicherheit Deutschlands und Europas so lange nicht gewährleistet sind, als der Kampf um den ersten Platz in der Welt nicht entschieden ist.
VII. China-Falle
Bei dem so genannten Hitler-Stalin-Pakt von 1939 wird bis heute gerätselt, wer eigentlich wen betrogen hat. Ich glaube, dass Stalin Hitler in die Pfanne gehauen hat. Damals hat Stalin Hitler zugesagt, ihm den Rücken freizuhalten, um gegenüber Polen usw. vorzugehen. Hitler hat nicht bedacht, was mehrfach in den Märchen ausgesprochen wird: Ein schwächerer Partner soll sich von einem starken „Freunde“ nicht allzu viel Hilfe geben lassen, er wird abhängig und am Ende aufgefressen. In dem Ukraine-Konflikt ist es offenbar so, dass der chinesische Staatspräsident seinem russischen Kollegen Putin gesagt hat: Mach nur! Gehe gegen die Nato-Osterweiterung vor, wie du es für richtig hältst, ich stütze dich politisch und halte dir den Rücken frei. Vielleicht ist Putin damit nicht nur in eine amerikanische Falle gelaufen, sondern auch in eine chinesische. Putin wird aus dieser Ukraine_Nummer nicht unblessiert herauskommen. Vielleicht wird er in den nächsten Monaten gestürzt, und Russland steht dann vor der Weltgeschichte nackt und bloß. Wirtschaftlich ist Russland ohnehin so abgeschlagen, dass seine gesamte Wirtschaftskraft kaum die einer chinesischen Großstadt erreicht. Das könnte die Stunde der Chinesen sein, um alte Rechnungen auf den Tisch zu legen. Glaubt denn wohl einer, dass China den Vertrag von Aigun 1858 vergessen hat? Mit diesem eignete sich das Zarenreich unter höchste erpresserischen Bedingungen Wladiwostok (der Name allein „beherrsche den Osten“ ist Programm!) und Umgebung zulasten Chinas an.
VIII. Und die USA?
Die haben, was sie wollten. Das Stichwort von Rapallo (April 1922) ist bei den Westmächten in unguter Erinnerung. Auf die heutige Zeit umgeschrieben: Statt Deutschland/Russland sage EU/Russland. Solange Russland eine ernst zu nehmende Weltmacht ist, können wir den amerikanischen Weltherrschaftsansprüchen jedenfalls theoretisch entgegengehalten: Treibt es mit euren hegemonialen Ansprüchen an Europa nicht zu weit, behandelt uns als Partner, nicht als Vasallen! Anderenfalls könnten wir uns den Russen nähern und zu einer euro-asiatischen Allianz verbinden. Wenn aber Russland, wie abzusehen, als politischer Paria und wirtschaftliche Null dasteht, wäre eine solche „Drohung“ für die Falken im Pentagon und Weißen Haus nur noch zum Lachen.
Ergebnis
Sollte es zu einem wirklich heißen Krieg in der Ukraine kommen, was leider gar nicht ausgeschlossen ist, wäre das mit hoher Wahrscheinlichkeit finis Germaniae, das letzte Kapitel Deutschlands. Wenn erfahrene Politiker wie J. Trittin, Dohnany S. Wagenknecht u.a., deren sonstige politische Einstellungen ich nicht teile, im Zusammenhang mit der Ukraine-Konflikt vor einem Krieg warnen, der Deutschland zerstören könnte, dann müssen wir auf diese hören und nicht auf die Bild-Zeitung und auf die FAZ auch nicht. (Essen, 28. Februar 2022).
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* In stock market trading, a bull trap is an inaccurate signal that shows a decreasing trend in a stock or index has reversed and is now heading upwards, …