Die Gefährdung unserer Demokratie durch ihre Demokraten

Kritische Gedanken zu 75 Jahren Grundgesetz – Zwei Mängel: Es fehlen die persönliche Gemeinwohlverpflichtung sowie Volksentscheide und Volksbegehren – Eine besorgte gemeinsame Frage dreier einstiger Bundespräsidenten – Schon vieles steht im Gegensatz zum Geist des Grundgesetzes

Von Reinhard Uhle-Wettler*)

Die Feiern zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes (GG) vom 23. Mai 1949 waren von Lob und Zustimmung geprägt. Dem kann man sich anschließen, denn auf seiner Grundlage war es uns vergönnt, einen erfolgreichen demokratischen Rechtsstaat aufzubauen. Dennoch ist es zweckmäßig, Mängel aufzuspüren, die sich auf das schnell wandelnde politische Geschehen auswirken.

Die Gemeinwohl-Verpflichtung für alle Staatsbürger in der „Weimarer Verfassung“

Wir sehen vor allem zwei kritische Punkte, die der Beachtung bedürfen: Da ist erstens der individualistische Ansatz mit der Betonung der Grundrechte. Das führt zu der Frage, wer eigentlich für das Gemeinwohl zuständig ist. In der „Weimarer Verfassung“ finden wir zum Vergleich dazu den wesentlichen Verfassungsgrundsatz zum Beispiel in Artikel 133: „Alle Staatsbürger sind verpflichtet, nach Maßgabe der Gesetze persönliche Dienste für den Staat und die Gemeinde zu leisten.“ Im GG muss man lange nach einem Passus suchen, der dem Bürger bestimmte Pflichten für das Gemeinwesen auferlegt.

Der Amtseid von Bundespräsident, Bundeskanzler und Ministern im Grundgesetz

Immerhin spricht der Amtseid des Bundespräsidenten, des Kanzlers und der Minister gemäß Artikel 56 folgende Grundpflicht aus: „Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes (nicht der Bevölkerung! U-W) widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ Ergänzend dazu kann die 3. Strophe des Deutschlandliedes als Nationalhymne hinzutreten, die sich immerhin zum Deutschen Vaterland bekennt.

Der zweite Mangel: keine Volksentscheide, keine Volksbegehren

Den zweiten wesentlichen Mangel des Grundgesetzes sehen wir darin, daß die sogenannte „repräsentative Demokratie“ gemäß GG auf Bundesebene keine Volksentscheide und kein Volksbegehren vorsieht, es sei denn, es geht um die Neugliederung des Bundesgebietes nach Artikel 29. Obwohl nach Artikel 20 GG Alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und die Parteien bei der politischen Willensbildung lediglich mitwirken (Art. 21), hat sich ein alles durchdringender und beeinflussender „Parteienstaat“ (R. v. Weizsäcker) entwickelt. So kann der bekannte Demokratieforscher Professor Hans Herbert von Arnim in einem seiner zahlreichen wissenschaftlich umfassend begründeten Bücher sagen: „In Anlehnung an Abbé Sieye`s berühmtes Wort könnte man fragen: Was ist das Volk? Alles! Was hat es zu sagen? Nichts! In Deutschland scheinen bei der Zurückdrängung des Volkes überkommene obrigkeitsstaatliche Denkweisen, die dem beschränkten bürgerlichen Untertanenverstand nichts zutrauen, mit dem Allmachtinteresse der Führungsgruppen der Parteien eine unheilige Allianz eingegangen zu sein. Die Folgen sind Bürgerferne und Parteienverdrossenheit der Bürger.“ (Der Staat als Beute, Seite 360)

Was Solschenizyn über Berufspolitiker äußerte

Bei Alexander Solschenizyn lesen wir in Rußlands Weg aus der Krise: „Für die grundlegende Entscheidung von Staatsschicksalen sind Parteien nicht zuständig, und man darf sie ihnen nicht überlassen. Im Parteienradau würde unsere Provinz heruntergewirtschaftet, unser Dorf betrogen werden. Wir dürfen ‚Berufspolitikern‘ keine Gelegenheit bieten, die Stimme des Volkes mit der eigenen zu vertauschen.“ (Seite 55)

Eine besorgte gemeinsame Frage dreier einstiger Bundespräsidenten

Der Bundeskanzler Willy Brand hat einst die berühmte Forderung ausgesprochen: „Mehr Demokratie wagen!“ Ergänzend hierzu ist eine gemeinsame Erklärung zu erwähnen, welche die ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, Richard von Weizsäcker und Walter Scheel unter Federführung des amtierenden Präsidenten Johannes Rau anlässlich der 50. Wiederkehr der Wahl des ersten Bundespräsidenten am 12. September 1949 veröffentlicht haben. Sie stellen einige besorgte Nachfragen an die Verfassungswirklichkeit. Darunter lautet die dritte Frage wie folgt: „Sind wir uns bewusst, daß unsere repräsentative Demokratie im Zeitalter globaler Veränderungen mehr denn je des Engagements der Bürger und ihrer Mitwirkung und Teilhabe an politischen Aufgabe bedarf?“ Es stellt sich also unerbittlich die Frage nach Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit.

Schon vieles steht im Gegensatz zum Geist des Grundgesetzes

Außerdem wäre zu untersuchen, ob das Grundgesetz angesichts des Zeitgeistes und der politischen Entwicklungen nicht reformiert werden muss? Etliche Auflösungserscheinungen unseres Volkes sind unübersehbar. Der Bestand von Familie, Volk und Nation und unserer traditionellen Kultur ist gefährdet. Weitere drohende Gefahren sind das demographische Defizit, die Massenmigration, der Souveränitätsdefekt aufgrund unsachgemäßer EU-Politik, der absurde allgemeine „Kampf gegen Rechts“ mit dem Gebrauch der Sprache der Bolschewiki: „Faschisten“, „Nazis“ gegenüber sogenannten „Völkischen“ und „Nationalisten“, das allgemeine Klima der Denunziation und des Verdachts durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, eine längst überholte Einrichtung zum Schutz der herrschenden Parteien. Vieles davon steht im Gegensatz zum Geist des GG. Dort heißt es im Artikel 33,3: „Niemand darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“

Die Gefährdung unsere Demokratie durch ihre Demokraten

Angesichts der Gefährdung unserer Demokratie durch ihre Demokraten kann die Berufung auf den Geist des GG eine notwendige Stütze im Getriebe der Verfassungswirklichkeit sein. Darum trotz oben beschriebener Mängel: Ein Hoch auf die Väter des Grundgesetzes!

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*) Reinhard Uhle-Wettler ist Brigadegeneral a. D. der Bundeswehr. Er war Vorsitzender der Staats- und Wirtschaftspolitischen Gesellschaft e. V. (SWG) in Hamburg von 1995 an. Näheres über diese Gesellschaft finden Sie hier. Die Gesellschaft besteht seit 55 Jahren. Uhle-Wettler ist Mitglied des Johanniterordens. Auf dieser meiner Web-Seite finden sich auch frühere Beiträge von ihm. Einer vom 11. März 2017 hieß „Der letzte Akt“ (hier). Ein weiterer vom 8. Juli 2018 trug die Überschrift „Der programmierte Deutsche“ (hier) und ein dritter vom 22. Juli 2020 „Aus Leidenschaft für die Freiheit“ (hier). Oder dieser: Weltpolitische Verwerfungen vom 12. Dezember 2021 (hier). Vom Autor stammt auch das Buch Die Überwindung der Canossa-Republik. Ein Appell an Verantwortungsbewußte. Hohenrain-Verlag, Tübingen 1996. Eine dritte und erweiterte Auflage ist im Jahr 2000 erschienen (224 Seiten. ISBN  3891800576). Ferner ist Uhle-Wettler Herausgeber des Buches Wagnis Wahrheit. Historiker in Handschellen? Festschrift für David Irving. Arndt-Verlag, Kiel 1998. ISBN 3-88741-199-4.

Die Zwischenüberschriften sind vor mir eingefügt.

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