Die Kissinger-Formel von 2014 für das Verhandlungsziel im Krieg um die Ukraine: „Nicht absolute Zufriedenheit, sondern ausgewogene Unzufriedenheit“ – Kernsätze aus Kissingers Analyse: Mit Russland kooperieren – Versöhnung suchen, nicht die Herrschaft einer Seite – Putin nicht dämonisieren – Was Putin erkennen sollte – Putin nicht von oben herab behandeln – Eine Lösung, wie sie möglich ist
Die Ukraine und Russland verhandeln zwar, aber von Feuerpausen in der Ukraine währenddessen liest und hört man nichts. Was Russland (Putin) beansprucht, will die Ukraine (Selenskyj, USA, Nato, EU) nicht hergeben. Dazu gehört vor allem ein Neutralitäts-Status der Ukraine (wie die Schweiz oder Österreich) und damit keine Nato- und keine EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Verhandlungslösungen für den Konflikt gibt es. Die gibt es immer. Ihr Preis ist aber stets, dass jeder Gegner auf etwas verzichten muss, auf das er eigentlich nicht verzichten will. Das gegenseitige Verzichten muss so ausgewogen sein, dass das Ergebnis der Verhandlung, also die Konfliktlösung, dauerhaft genug ist. Die pauschale und weise Formel dafür hat Henry Kissinger geprägt: Die gegnerischen Parteien müssten sich damit abfinden, „nicht absolute Zufriedenheit, sondern ausgewogene Unzufriedenheit“ zu erreichen – falls sie den Konflikt denn auch wirklich durch Verhandeln lösen wollen.
Als sich Putin anschickte, die Krim aus der Ukraine „zurückzuholen“
Kissingers Empfehlung ist acht Jahre her. Abgegeben hat er sie zum Russland-Ukraine-Konflikt um die Krim. Unter der Überschrift „How the Ukraine Crisis Ends“ hatte The Washington Post am 6. März 2014 von ihm einen Artikel veröffentlicht. Damals, am 23. Februar 2014, hatte Russlands Präsident Putin davon gesprochen, die „Rückholung der Krim zu Russland“ vorbereiten zu müssen, „um den Bewohnern die Möglichkeit zu geben, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden“ (hier). Am 27. Februar 2014 gab es erstmals Berichte, das auf der Krim stationierte russische Militär habe dort strategisch wichtige Gebäude und Einrichtungen besetzt (ebenfalls hier). Wie Kissinger*), damals im 91. Lebensjahr, die politische Lage um die Ukraine vor acht Jahren beurteilte, liest sich, als wäre es heute geschrieben. Kernsätze aus Kissingers damaliger Analyse lauten:
Mit Russland kooperieren
„Die Ukraine als Teil einer Ost-West-Konfrontation zu behandeln, würde jahrzehntelang jede Aussicht zunichtemachen, Russland und den Westen – insbesondere Russland und Europa – in ein kooperatives internationales System zu bringen.“
Versöhnung suchen, nicht die Herrschaft einer Seite
„Eine kluge US-Politik gegenüber der Ukraine würde einen Weg für die beiden Teile des Landes suchen, miteinander zu kooperieren. Wir sollten Versöhnung suchen, nicht die Herrschaft einer Fraktion. Russland und der Westen und am allerwenigsten die verschiedenen Fraktionen in der Ukraine haben nicht nach diesem Prinzip gehandelt. Jeder hat die Situation verschlimmert.“
Putin nicht dämonisieren
„Russland wäre nicht in der Lage, eine militärische Lösung durchzusetzen, ohne sich in einer Zeit zu isolieren, in der viele seiner Grenzen bereits prekär sind. Für den Westen ist die Dämonisierung von Wladimir Putin keine Politik; es ist ein Alibi für das Fehlen eines solchen.“
Was Putin erkennen sollte
„Putin sollte erkennen, dass, was auch immer seine Beschwerden sein mögen, eine Politik militärischer Bedrängungen (im Original: military impositions) einen weiteren Kalten Krieg hervorbringen würde.“
Putin nicht von oben herab behandeln
„Die Vereinigten Staaten ihrerseits müssen es vermeiden, Russland als Abweichler, als Abnormalen (im Original: aberrant) zu behandeln, dem von Washington festgelegte Verhaltensregeln geduldig beigebracht werden. Putin ist ein ernsthafter Stratege – auf der Grundlage der russischen Geschichte. Das Verständnis der US-Werte und der Psychologie sind nicht seine Stärken. Auch das Verständnis der russischen Geschichte und Psychologie war keine Stärke der US-Politiker.“
Eine Lösung, wie sie Kissinger skizziert und wie sie möglich ist
Abschließend skizziert Kissinger, wie er sich eine Lösung vorstellt, die „mit den Werten und Sicherheitsinteressen aller Seiten vereinbar ist“:
- Die Ukraine solle das Recht haben, ihre wirtschaftlichen und politischen Verbindungen, auch mit Europa, frei zu wählen.
- Die Ukraine solle der Nato nicht beitreten, eine Position, die er, Kissinger, vor sieben Jahren eingenommen habe, als sie das letzte Mal aufgekommen sei.
- Die Ukraine solle frei sein, jede Regierung zu schaffen, die mit dem ausdrücklichen Willen ihres Volkes vereinbar sei. Die weisen ukrainischen Führer würden sich dann für eine Politik der Versöhnung zwischen den verschiedenen Teilen ihres Landes entscheiden. International sollten sie eine Haltung einnehmen, die mit der Finnlands vergleichbar sei. Diese Nation lasse keinen Zweifel an ihrer erbitterten Unabhängigkeit und kooperiere in den meisten Bereichen mit dem Westen, vermeide aber sorgfältig institutionelle Feindseligkeit gegenüber Russland.
Wie sich Kissinger Anfang März 2014 die Krim-Lösung vorstellte
Es gibt von Kissinger noch eine Ziffer 4 zu seiner Lösungsskizzierung. Er hat sie formuliert, als Putin die Krim für Russland noch nicht „zurückgeholt“ hat, aber auch nicht annektiert hat.**) Denn eine Annexion der Krim durch Russland, so Kissinger, sei mit den Regeln der bestehenden Weltordnung unvereinbar. Und dann weiter: „ Aber es sollte möglich sein, das Verhältnis der Krim zur Ukraine auf eine weniger angespannte Grundlage zu stellen. Zu diesem Zweck würde Russland die Souveränität der Ukraine über die Krim anerkennen. Die Ukraine sollte die Autonomie der Krim bei Wahlen in Anwesenheit internationaler Beobachter stärken. Der Prozess würde die Beseitigung aller Unklarheiten über den Status der Schwarzmeerflotte in Sewastopol beinhalten.“ Doch dazu ist es nicht gekommen, jedenfalls nicht bisher.
Nicht absolute Zufriedenheit, sondern ausgewogene Unzufriedenheit
Zur Konfliktlösung, wie er sie vor acht Jahren skizziert hat, schreibt Kissinger: „Das sind Prinzipien, keine Rezepte. Menschen, die mit der Region vertraut sind, werden wissen, dass nicht alle von ihnen für alle Parteien schmackhaft sein werden. Der Test ist nicht absolute Zufriedenheit, sondern ausgewogene Unzufriedenheit. Wenn eine Lösung, die auf diesen oder vergleichbaren Elementen basiert, nicht erreicht wird, wird sich das Abdriften in Richtung Konfrontation beschleunigen. Die Zeit dafür wird früh genug kommen.“ Dar ganze Beitrag Kissingers hier.
Seit dem 24. Februar 2022 ist es zum Abdriften in die Konfrontation nun gekommen, sogar in die kriegerische.
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*) Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler und Politiker Henry A. Kissinger von 1973 bis 1977 unter Richard Nixon Amerikas Außenminister. Durch den Verlauf seiner unterschiedlichen Tätigkeiten in den USA ist er auch eine schillernde und ambivalente Persönlichkeit, die im politischen Zwielicht steht. In den beiden Jahrzehnten, die den 1970er Jahren vorangegangen waren, hatte er zu den Verursachern der Spannungen zwischen den thermonuklearen Mächten gehört. In der Nixon-Ära dann trat er als „Friedensstifter“ auf, konzentrierte sich auf das europäische Patt und versuchte, die Spannungen zwischen dem Westen und Russland abzubauen. Er verhandelte die Gespräche über die Begrenzungen strategischer Waffen, die mit dem SALT-I-Vertrag endeten (hier), und den Anti-Ballastic Missile Treaty (hier). Er versuchte, „sich wieder als vertrauenswürdiger Staatsmann und Diplomat zu profilieren“(Quelle: hier).
**) Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Reinhard Merkel: „Hat Russland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts).“ – Merkel in seinem Beitrag „Die Krim und das Völkerrecht – Kühle Ironie der Geschichte“ in der FAZ vom 7. April 2014 hier.