Ein Leben in Deutschland

Eingebettet in den Strom gemeinsamer Erinnerungen – Sie halten eine Gesellschaft zusammen – Was die Lektüre von Lebenserinnerungen vermitteln soll – Die guten Jahre, die wilden Jahre – Schulen und Medien als Hebel der Gesellschaftsveränderung – Lässt sich eine Gesellschaft (wie die deutsche) umsteuern? – Wie im Leben gibt es auch in der Politik kein wirkliches Zurück – Das Buch von Johann Braun „Ein Leben in Deutschland“

In die höheren Etagen des Alters gerät bei gesundem Lebensverlauf irgendwann jedermann. Dann wird die Zukunft für ihn kürzer, die Vergangenheit länger. Dann kommt an Erinnerungen mehr hoch als an Vorhaben für den Lebensrest. Man reflektiert, was und wie das eigene Leben war, was man gut hinbekommen hat und was nicht, was man bedauert, was man versäumt hat. Und so mancher, sei es Mann, sei es Frau, spielt mit dem Gedanken, seine Erinnerungen aufzuschreiben – entweder nur für sich selbst, nur für die Familie oder aber in Buchform für die Öffentlichkeit. Meist jedoch bleibt es beim Gedankenspiel. Wohl besteht ein Mitteilungsbedürfnis, aber viele haben nicht genug Bemerkenswertes erlebt, viele mögen oder können nicht schreiben, viele schaffen es zeitlich nicht, viele scheuen die Mühe, viele fürchten, andere mit Belanglosigkeiten zu langweilen, vielen fehlt die Artikulierungsgabe und die Darstellungskraft. Sie schicken sich drein in die Erkenntnis, dass sie letztlich nichts zu sagen haben. Diejenigen, die es mit ihren Erinnerungen trotzdem zu einer Autobiographie bringen, sind – gemessen an der übrigen Menschheit – nur wenige. Zu diesen wenigen gehört der Rechtswissenschaftler Johann Braun. Betitelt ist sein Buch mit „Ein Leben in Deutschland – Rückblicke auf sieben Jahrzehnte BRD“. Braun (Jahrgang 1946) war bis zu seiner Pensionierung 2011 Professor für Zivilprozessrecht, Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Passau.

Gemeinsame Erinnerungen halten eine Gesellschaft zusammen

Warum Erinnerungen? Im Vorwort schreibt Braun unter anderem: „… Erinnerung eröffnet Einsichten, die unseren Blick auf die Welt tief prägen; denn auch sie ist eine der Betrachtungsweisen, durch die wir unser Dasein als Teil eines größeren Ganzen begreifen. … Auch das kollektive Selbstverständnis gründet sich darauf, dass Erinnerungen gesammelt und aufbewahrt werden, in diesem Fall freilich Erinnerungen an geschichtliche Verläufe und Ereignisse, in die das Kleinleben der meisten unentrinnbar eingeschlossen ist. Eine Gesellschaft, in der die Generationen nicht durch das Band solcher Erinnerungen zusammengehalten werden, dürfte auf lange Sicht keinen Bestand haben; denn sie würde des wichtigsten Mittels entbehren, um sich ihrer Identität immer aufs neue zu versichern.“

Was die Lektüre von Lebenserinnerungen vermitteln soll

Warum ein Buch mit Erinnerungen? Eigentlich gilt, was Braun so formuliert: „Wie jedermann weiß, ist nichts auf der Welt langweiliger, als wenn mit einem Bein im Grab stehende Leute damit renommieren, dass sie früher auch einmal jung waren und was sie damals Unsterbliches geleistet haben. Wen soll das schon Interessieren?“ Folglich muss man, will man Leseinteresse wecken, anderes bieten. Braun vermag es, denn er weiß: „Was interessiert, sind die anderen Verhältnisse, der unaufhaltsame Wandel der Dinge und Ansichten, die abweichende Lebensart und überhaupt: aus welchen Ursprüngen die Welt hervorgegangen ist. Wer zur Lektüre von Lebenserinnerungen greift, möchte all dies durch die Brille eines Zeitgenossen erleben, er möchte Schilderungen und Eindrücke von einem, der dabei war, sei auch das, was er auf diese Weise erfährt, noch so einseitig und ergänzungsbedürftig.“

„Ein Rückblick auf das Land, in dem ich mein Leben verbringen durfte und musste“

Der möglichen Sorge, die Erinnerungen eines Juristen könnten fachlich geraten, so dass man von so einem Buch lieber die Finger lasse („ein Abschreckungsmittel ersten Ranges“), begegnet er ebenfalls gleich vorweg: Ihm gehe es nicht um rechtliche Fragen, jedenfalls nicht in erster und auch nicht in zweiter Linie, eigentlich sogar überhaupt nicht. Er wisse aus vielfacher Erfahrung, dass man juristische Laien mit rechtlichen Erörterungen nicht behelligen dürfe. Erstens verstünden sie sowieso nichts davon, zweitens wüssten sie auch ohne Sachverstand alles besser. Man fange damit also am besten gar nicht an. Unvermeidbar sei freilich, dass viele seiner Erlebnisse und Beobachtungen durch seine Ausbildung und Tätigkeit bedingt und geprägt seien. Daher geht es ihm in dem Buch zu allererst darum, „einen Rückblick auf das Land zu werfen, in dem ich mein Leben verbringen durfte und musste: nämlich Deutschland in der Zeitspanne nach dem Zweiten Weltkrieg, den ich selbst zum Glück nicht mehr erlebt habe.“

Eingebettet in den Strom historischer Geschehnisse

In seinem Vorwort gibt Braun eine lesenswerte Einführung in sein Buch, darunter auch dies: „Ich möchte von den Zeiten und Verhältnissen berichten, durch die ich gegangen bin, und meinen Weg nachzeichnen, soweit er dafür von Interesse ist. Diese Zeiten haben ihr Licht und ihren Schatten auf alle geworfen, die in ihnen gelebt haben. Denn wie sehr auch immer wir unser geschätztes Ego für den Maßstab aller Dinge halten, so sind wir doch eingebettet in den nie endenden Strom historischer Geschehnisse und werden davon geleitet, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Nur zum kleinen und in der Regel fast unmerklichen Teil tragen wie selbst mit dazu bei. Das eigentliche, wenn auch unterschwellige Thema dieses Buches ist daher die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, angefangen von ihrer Entstehung bis hin zu ihrer sich abzeichnenden Auflösung. In diese Geschichte war mein Leben und das meiner Generation verstrickt, und eben diese Gemengelage aus objektiven Ereignissen, subjektiven Erlebnissen und dadurch ausgelösten Reflexionen möchte ich hier zu Papier bringen.“

Von der Kindheit bis zu den Gefahren, die der deutschen Gesellschaftsordnung drohen

Aufgebaut ist das Buch mit seinen dreizehn Kapiteln chronologisch. Es beginnt mit „harmlosen Kindheitserinnerungen, die das Gedächtnis zufällig aufbewahrt hat“ und endet mit einem weitsichtigem und eindringlichen Ausblick, der sich mit der Selbstaufgabe Deutschlands beschäftigt, mit den düsteren Zukunftsaussichten der Freiheit, mit der Heuristik der Furcht und damit, was aus dem europäischen Menschenbild, aus der abendländischen Kultur wird – dies mit akademischer Zurückhaltung und sprachlicher Eleganz. In seinem „Ausblick“ macht sich Braun für den Leser Gedanken zu den Fragen, welche Gefahren der in Deutschland und allgemein überkommenen Gesellschaftsordnung drohen.

Die guten Jahre, die wilden Jahre

Dazwischen die anderen Kapitel: Das Ende der schlechten Zeit (darunter: Reminiszenzen an die Nazi-Zeit und Reeducation) – Die Periode des Wirtschaftswunders – Die guten Jahre der Bundesrepublik – Die wilden Jahre – Akademische Plebejer proben den Aufstand (darunter: der RAF-Terror, 1968er Studentenbewegung, die Ära Brandt, Helmut Schmidt, Radikalenerlass, Ölkrise) – Der Niedergang der DDR – Sozialismus ohne Arbeiterklasse (darunter: Sozialistische Bewegungen im Aufwind, Aufkommen der Grünen, Kernkraft und Waldsterben, Tschernobyl, Historikerstreit, Eine umerzogene Generation) – Die Wiedervereinigung Deutschlands (darunter: Westliche Usancen im Wilden Osten, Aufflammender Rechtsextremismus und Asylrechtsänderung) – Europäisierung und Entnationalisierung Deutschlands (darunter: Einigung Europas von oben her, Rechtschreibreform, Vormarsch der Linksparteien Heimatverlust, Ausländerfreundlichkeit, Bolognaprozess, Deutscher Geschichts- und und Inländerfeindlichkeit) – Die politisch korrekte „bunte“ Republik (darunter: Kriegsbeteiligung und „Sozialabbau“ unter rot-grüner Regie, Verwüstungen der Political Correctness, Kampf der „Anständigen“ gegen Rechts, Folgen außereuropäischer Zuwanderung) – Deutschland für alle.   (Foto: Johann Braun)

Schulen und Medien als Hebel der Gesellschaftsveränderung

In diesem (vorletzten) Buchkapitel „Deutschland für alle“ schreibt Braun unter anderem über Schulen und Medien als Hebel der Gesellschaftsveränderung, über die schwindende Attraktivität der traditionellen Familie, über Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, über die (von politischen Parteien) gewünschte Massenimmigration, über politische Gegenbewegungen (Aufkommen der AfD), über den Kampf gegen die Redefreiheit der Bürger, über den Tod von Helmut Kohl. Stichworte in diesem Kapitel sind auch Merkels Grenzöffnung 2015 als „ein Akt der Verantwortungslosigkeit“, die Öffnung Europas gegenüber dem Islam, der unselige Volksverhetzungsparagraph, die „Schmutzarbeit“ von Nichtregierungsorganisationen, die „Meinungswächter“ Facebook, Twitter, YouTube und Microsoft als „Denunziantenstadel“, die beiden politischen Großereignisse Brexit und die Wahl Trumps zum amerikanischen Präsidenten, ferner Fake News, Hassrede, Netzwerkdurchsetzungsgesetz, die Blockwarte von heute …

Lässt sich eine Gesellschaft (wie die deutsche) umsteuern?

Lässt sich eine Gesellschaft (wie die deutsche) umsteuern? Mit demokratischen Mitteln nur allmählich, lautet Brauns Antwort, denn in puncto Beweglichkeit gleiche eine Gesellschaft einem großen Tanker. „Das heutige Deutschland“, schreibt er, „verdankt sich zu einem guten Teil dem von den 68ern angetretenen vieljährigen ‚Marsch durch die Institutionen’. Er ist verankert in den Köpfen von Millionen quer durch alle Altersklassen und kann daher – unvorhergesehene Ereignisse vorbehalten – nur durch einen abermaligen, sich über mindestens eine Generation erstreckenden ‚Umdenkungsprozess’ verändert werden. Zu glauben, man könne durch den Austausch einiger Spitzenpolitiker das Land in ein anderes verwandeln, ist naiv. Denn diese Politiker bilden die Spitze eines Eisbergs, der aus zahllosen Menschen besteht, die ihren Einfluss in allen Ritzen der Gesellschaft geltend machen. Solange diese Kohorten dieselben sind, ist es schon viel, wenn es gelingt, das Klima der öffentlichen Auseinandersetzung zu verändern.“

Wie im Leben gibt es auch in der Politik kein wirkliches Zurück

Die Versuchung, noch mehr aus dem Buch zu zitieren und den Appetit anzuregen, es ganz zu lesen, ist groß. Nachgegeben sei ihr nur noch mit diesem einem Absatz: „Der Idee nach entscheiden demokratische Wahlen das politische Schicksal eines Landes nur bis zum nächsten Wahltermin; danach beginnt ein neues Spiel. Aber ebenso wie man im Leben auch sonst nie zu einem früheren Zustand zurückkehren kann, sondern nur von dem erreichten Punkt aus weitermachen kann, gibt es auch in der Politik kein wirkliches Zurück. Ein Realpolitiker muss von den Fakten ausgehen, die er vorfindet, und das Beste daraus machen. … Auf diese Weise sind die Nachkommenden zu allen Zeiten an Entscheidungen ihrer Vorgänger, die sich ohne gravierende Nachteile nicht ändern lassen, gebunden. Dass sie ihnen nicht zugestimmt haben, verschlägt dagegen nicht viel, denn die Geschichte ist zutiefst undemokratisch. Sie kennt eine partielle Herrschaft des Alten über das Neue, eine Herrschaft der Toten über die Lebenden, eine Last der Vergangenheit, die sich nicht abschütteln lässt. Nur auf dem Boden unrevidierbarer Tatsachen lässt sich einneues Spiel beginnen, nur die hiernach verblieben Möglichkeiten sind offen. Wer sie nicht kennt, muss sie gegebenenfalls in der Schule des Lebens lernen.“

Was in dem Buch erstaunlich zu kurz kommt

Brauns Buch liest sich mit Genuss und Erkenntnisgewinn spannend von Anfang bis Ende, vor allem wohl für die gleiche Altersgruppe wie der Autor, die miterlebt haben und noch miterleben, was er beschreibt. Den Älteren erleichtert es erinnerndes Einordnen im Nachhinein, den Jüngeren bietet es Information über nicht selbst Erlebtes. Brauns Beobachtungen und Analysen sind treffend, seine Urteile klug und abgewogen, seine Sprache ist nüchtern, sachlich und abgefasst in klarer Diktion. Erstaunlich zu kurz (Seite 280) kommt im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung der Rechtsbruch der Regierung Kohl und der Nachfolgeregierungen gegenüber jenen Deutschen, die in der SBZ-Zeit (1945 bis 1949) von der sowjetischen Besatzungsmacht und mehr noch von den deutschen Kommunisten widerrechtlich politisch verfolgt, vertrieben, enteignet, verhaftet und umgebracht wurden. Auch einer eigenen rechtlichen Bewertung dieser für einen Rechtsstaat unnötigen großen Schande entzieht er sich. Dass dies auch die große Mehrheit der deutschen Juristen getan hat, exkulpiert ihn nicht.

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Johann Braun: Ein Leben in Deutschland. Rückblicke auf sieben Jahrzehnte BRD. Biographien zur Zeitgeschichte. LIT Verlag Dr. SW. Hopf, Berlin 2018. 471 Seiten. Broschürt. 44,90 Euro. ISBN 978-3-643-13989-4.

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Ein Kommentar zu „Ein Leben in Deutschland“

  1. Ja, es ist ein großes Problem ein Buch zu schreiben ! Wenn ,man dann auch noch Emotional geladen , Tränen und Wut in Hilflosigkeit den Anfang des Willens ersticken ! -Ich perönlich, habe es wenigstens dank der elektronischen Medien , im Ansatz unter https://www.mdr.de/heute -im-osten/kontakt/index.html versucht . Die erweiterte Form , die Erinnerungen an die Lieben bei den ,, Helfenden Händen “ Hamburg besonders Gertrud und Kurt Wenzel , der Witwe des von den SED-Schergen ermordeten Widerstandskämpfers Gerhard Benkowitz und des einsamen Gemeinschaftsgrabs in Hamburg Bergedorf welches ich pflege liegen in der Schublade und werde ich wohl als Bürde Tragen .- Den Rechtsstaat erkennen die Opfer der Gewaltherrschaft seit 1945 dis Heute gut beschrieben an dem Artikel von KarlFeldmeyer in der FrankfurterAllgemeinen Zeitung vom 7.3.2001,:,,Wie der Staat mit aller Rechtsmacht den Rechtssaat niedermäht!“ Symbolich das Schicksal des Widerstanskämpfers Axel von dem Bussche versus des verlogenen von Weizsäcker bis Schäuble und dieser ganze Bande , die schon der Kriminalkomissar Opferkuch oder Fritz Bauer erkannt haben !! Nein die Akteure dieses Rechtsstaates bedienen sich einer Chimäre und da bedarf es wohl einer Revolutio um bei Lebzeiten etwas zu ändern , sonst werden die Tränen nicht weichen !! 2017 durften sich die letzten Auschwitzopfer mit 2500, -€ begnügen in diesem walter Hallstein Flick und co Land …

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