Der totale Überwachungsstaat

Ob 2084 kommt, was 1984 noch nicht geschah? Was George Orwell in seinem fiktionalen Buch beschreibt, bedarf rechtzeitiger Gegenwehr, um es zu verhindern

Sie werden das Buch „1984“ von George Orwell kennen. Wahrscheinlich auch gelesen haben. Oder wenn nicht, noch lesen werden. Erschienen ist es 1949. Orwell beschreibt darin den totalen Überwachungsstaat. Ein gespenstisches Buch. Für Orwell war 1984, als er es Ende der 1940er Jahre schrieb, eine ferne Zukunft. Nun, das Jahr 1984 haben wir schon gehabt. Aber so gekommen, wie im Buch geschildert, ist es damals noch nicht. Auch jetzt sind wir davon noch einigermaßen weit entfernt. Aber wird vielleicht 2084 eintreten, was 1984 noch ausgeblieben ist? Mit der staatlichen Überwachung sind wir schon heftig vorangekommen. Ebenso mit dem „Neusprech“ der political correctness. Beides geht bereits jetzt zu weit. Wir müssen uns und unsere Nachkommen davor bewahren, dass sich Orwells schreckliche Fiktion eines Tages doch verwirklicht.

Wer das Buch noch nicht gelesen hat, sollte es tun. Zur Warnung. Zur Abschreckung. Um sich zu wappnen. Um das Schleichende der immer stärkeren staatlichen Überwachung zu erkennen. Es bedarf rechtzeitiger Gegenwehr, um es zu verhindern. Für den, der sich die Mühe nicht machen will, das ganze Buch zu lesen, hat ein Mitbürger, er heißt Detlef Damm, etliche markante Passagen daraus zusammengestellt.*)

Die drei Parolen der Partei

Seite 10: Das Ministerium für Wahrheit – Miniwahr in Neusprech – unterschied sich verblüffend von allem, was man sonst sah. Es war ein riesiges pyramidales Gebilde aus schimmernd-weißem Beton, das Terrasse auf Terrasse dreihundert Meter in die Luft stieg. Von Winstons**) Standort aus konnte man eben noch die von der weißen Front in eleganter Schrift farblich abgesetzten drei Parolen der Partei lesen:

Krieg ist Frieden
Freiheit ist Sklaverei
Unwissenheit ist Stärke

Seite 45: Und wenn alle anderen die von der Partei oktroyierte Lüge akzeptierten – wenn alle Berichte gleich lauteten -, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.

Die Feuerungsanlagen zur Büchervernichtung

Seite 55: Da gab es die Heerscharen von Bibliothekaren, deren Aufgabe lediglich darin bestand, Listen von Büchern und Zeitschriften aufzustellen, die eingezogen werden sollten. Da gab es die gewaltigen Magazine, wo die korrigierten Dokumente aufbewahrt, und die verborgenen Feuerungsanlagen, wo die Originalausgaben vernichtet wurden. Es gab eine ganze Kette von Extra-Abteilungen, die sich eigens mit proletarischer Literatur, mit Musik, Theater und Unterhaltung generell befassten. Hier wurden Revolverblätter fabriziert, die nur Sport, Verbrechen und Horoskope enthielten, reißerische Fünf-Cent-Schundheftchen, sextriefende Filme und Schnulzen, die rein mechanisch, vermittels eines speziellen Kaleidoskops, des sog. Versifikators komponiert wurden.

Ein Irrer? Oder nicht?

Seite 99: Er fragte sich wie schon so oft, ob er nicht selbst irrsinnig war. Ein Irrer war vielleicht nichts weiter als eine Einmannminderheit. Früher war der Glaube, die Erde drehe sich um die Sonne, ein Zeichen von Irrsinn gewesen; heute war es der Glaube, die Vergangenheit sei unveränderbar. Mit diesem Glauben mochte er allein dastehen, und wenn es so war, dann als Irrer. Doch die Vorstellung, ein Irrer zu sein, machte ihm nicht viel aus; das Grauen lag vielmehr darin, dass er auch unrecht haben könnte.

Die schlimmste aller Ketzereien: gesunder Menschenverstand

Seite 100: Ihre Philosophie leugnete nicht nur die aller Erfahrungen, sondern stillschweigend die Existenz einer äußeren Realität überhaupt. Die schlimmste aller Ketzereien war gesunder Menschenverstand. Die Partei befahl einem, das Zeugnis der eigenen Augen und Ohren zu verwerfen. Das war ihr letztes, wesentlichstes Gebot. Er verzagte bei dem Gedanken an die gegen ihn ins Feld geführten gewaltigen Macht, an die Mühelosigkeit, mit der ihn jeder Parteiintellektuelle in der Diskussion besiegen würde, an die subtilen Argumente, die er nicht verstehen, geschweige denn würde widerlegen können. Und trotzdem war er im Recht! Sie hatten unrecht, und er hatte recht. Das Offensichtliche, das Einfältige und das Wahre mussten verteidigt werden. Binsenwahrheiten sind wahr, daran muss man festhalten. Die stoffliche Welt existiert, ihre Gesetze ändern sich nicht. Steine sind hart, Wasser ist nass, fallengelassene Objekte stürzen dem Erdmittelpunkt zu.

Alle Dokumente vernichtet oder gefälscht, Gemälde neu gemalt …

Seite 189: Von der Revolution und den Jahren vor der Revolution wissen wir bereits so gut wie nichts mehr. Alle Dokumente sind entweder vernichtet oder gefälscht worden, jedes Buch hat man umgeschrieben, jedes Gemälde neu gemalt, jedes Denkmal, jede Straße und jedes Gebäude umbenannt, jedes Datum geändert. Und dieser Prozess geht Tag für Tag, Minute für Minute weiter. Die Historie hat aufgehört zu existieren. Es gibt nur eine endlose Gegenwart, in der die Partei immer recht hat.

Der Krieg als Mittel, Materialien zu zerstören

Seite 230: Das Hauptwerk des Krieges ist die Zerstörung, nicht notwendigerweise von Menschenleben, aber die von Produkten menschlicher Arbeit. Der Krieg ist ein Mittel, Materialien zu vernichten, in die Stratosphäre zu jagen oder in den Tiefen des Meeres zu versenken, die sonst dazu benutzt werden könnten, es den Menschen bequem und sie somit auf lange Sicht zu intelligent zu machen. Selbst wenn Kriegsgerät nicht tatsächlich zerstört wird, bietet seine Herstellung immer noch einen einfachen Weg, Arbeitskräfte zu verbrauchen, ohne etwas Konsumierbares zu produzieren. In einer schwimmenden Festung zum Beispiel steckt eine Arbeitsleistung, mit der man mehrere hundert Frachtschiffe bauen könnte. Schließlich wird sie als überholt abgewrackt, ohne jemals irgendwem materiellen Nutzen gebracht zu haben, und mit einem erneuten ungeheuren Arbeitsaufwand wird die nächste schwimmende Festung gebaut.

Eine Politik, Menschengruppen am Rande des Existenzminimums zu halten

Im Prinzip ist die Kriegsleistung immer so berechnet, dass sie jeden Überschuss aufzehrt, der nach der Deckung der allernotwendigsten Lebensbedürfnisse der Bevölkerung verbleiben könnte. In der Praxis werden die Bedürfnisse der Bevölkerung immer unterschätzt, mit dem Ergebnis, dass an der Hälfte alle lebens-notwendigen Güter chronische Knappheit herrscht; aber das wird als Vorteil gewertet. Es ist ganz bewusste Politik, sogar die favorisierten Gruppen am Rande des Existenzminimums zu halten, denn ein allgemeiner Mangelzustand steigert die Bedeutung kleiner Privilegien und vergrößert so den Unterschied zwischen den einzelnen Gruppen.

Die Möglichkeit unabhängigen Denkens endgültig tilgen

Seite 233: Die Partei kennt zwei Ziele: die Eroberung des gesamten Erdballs und die endgültige Tilgung jeder Möglichkeit unabhängigen Denkens. Es gilt daher für die Partei, zwei große Probleme zu lösen. Erstens, wie lassen sich die Gedanken eines anderen Menschen gegen seinen Willen ausforschen; und zweitens, wie lassen sich mehrere Hundert Millionen Menschen in ein paar Sekunden ohne Vorwarnung umbringen. Sofern es noch wissenschaftliche Forschung gibt, ist dies ihr Gegenstand.

Kein privaten Gefühle mehr, in unablässiger Selbstdemütigung leben

Seite 253: Bei einem Parteimitglied jedoch kann selbst in der unbedeutendsten Frage auch nicht die geringste Meinungsabweichung geduldet werden.

Seite 254: Von einem Parteimitglied wird erwartet, dass es keine privaten Gefühle besitzt und sein Enthusiasmus nie erlahmt. Er soll in dauerndem Hass ausländische Feinde und innere Verräter, in ständigem Siegestaumel und in unablässiger Selbstdemütigung vor der Macht und Weisheit der Partei leben.

Wir machen ihn zu einem von uns, bevor wir ihn töten

Seite 306: Sie stören das Gesamtbild. Sie sind ein Makel, der ausgemerzt werden muss. Habe ich Ihnen nicht eben erst gesagt, dass wir uns von den Inquisitoren der Vergangenheit unterscheiden. Wir geben uns nicht mit unfruchtbarem Gehorsam, ja nicht einmal mit der hündischsten Unterwerfung zufrieden. Wenn Sie sich uns schließlich ergeben, dann muss es freiwillig geschehen. Wir vernichten den Ketzer nicht, weil er uns Widerstand leistet: solange er uns Widerstand leistet, vernichten wir ihn nie. Wir bekehren ihn, wir ergründen sein Innerstes, wir formen ihn um. Wir brennen ihm alles Böse und jede Illusion aus; wir bringen ihn auf unsere Seite, nicht dem Anschein nach, sondern aufrichtig mit Herz und Seele. Wir machen ihn zu einem von uns, bevor wir ihn töten. Es ist uns unerträglich, dass irgendwo auf der Welt ein irriger Gedanke existiert, wie geheim und kraftlos er auch sein mag. Sogar im Augenblick des Todes dürfen wir keine Abweichung dulden.

Ich sah sie langsam mürbe werden, winseln, kriechen, weinen

Früher stieg der Ketzer noch immer als Ketzer auf den Scheiterhaufen, verkündete seine Ketzerei und jauchzte über sie. Sogar das Opfer der russischen Säuberungswelle konnte auf dem Weg zur Erschießung noch die Rebellion im Schädel tragen. Aber wir machen das Gehirn zuerst vollkommen, bevor wir es ausblasen. Ich sah sie langsam mürbe werden, winseln, kriechen, weinen – und am Schluss tat sie das nicht vor Schmerz oder Angst, sondern allein aus Zerknirschung. Als wir mit Ihnen fertig waren, waren sie nur noch die leeren Hüllen von Menschen. Es gab in ihnen nur noch Reue über das, was sie getan hatten, und die Liebe zum Großen Bruder. Es war ergreifend, wie sehr sie ihn liebten. Sie baten darum, rasch erschossen zu werden, damit sie sterben konnten, solange ihr Geist noch rein war.

Das Ziel der Macht ist die Macht

Seite 316: Wir wissen, dass niemand die Macht je in der Absicht ergreift, sie wieder abzugeben. Macht ist kein Mittel, sondern der Endzweck. Man errichtet keine Diktatur, um eine Revolution zu garantieren; man macht die Revolution, um die Diktatur zu errichten. Das Ziel der Verfolgung ist die Verfolgung. Das Ziel der Folter ist die Folter. Das Ziel der Macht ist die Macht.

Begreifen Sie nun allmählich?

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*) Die Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe des Buches: George Orwell: 1984. Ullstein-Verlag, Taschenbuch-Ausgabe, 35. Auflage 2012. 380 Seiten. – Die Zwischenüberschriften sind von mir eingefügt.

**) Winston Smith ist die Hauptfigur des fiktionalen Romans.

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2 Kommentare zu „Der totale Überwachungsstaat“

  1. „Wer das Buch noch nicht gelesen hat, sollte es tun. Zur Warnung. Zur Abschreckung. Um sich zu wappnen…“

    Sehr geehrter Herr Krause,

    solange die Regierungen, große Teile der Wirtschaft und Banken (Lobby) und die Medien zusammenspielen, der Bürger diese tweilweise noch zwangsfinanziert, solange werden die Mächtigen immer die Oberhand behalten, zumal er auch regelmäßig und brav zur Wahl geht. Ausgefeilte Machenschaften durchblicken nur wenige, die Masse sorgt immer für den Status Quo.

    Deshalb, man muß nicht nur Angst vor den Regierenden bzw. den Mächtigen dahinter haben, sondern eher vor den eigenen Mitmenschen (Bürgern) die diesen Zustand erst ermöglichen. Insofern nützt es wenig, sich selbst dagegen zu wappnen, außer man verläßt sein gewohntes Umfeld, leider.

    Ob 2084 oder nicht ist nicht entscheidend, es ist ein schleichender aber bestimmter und in letzter Zeit beschleunigter Prozess der Veränderungen festzustellen. Jeder entscheidet selbst, wann für ihn das äußerste an Zumutungen erreicht ist oder handelt in weiser Vorausschau.

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