Eine willkürliche und rechtswidrige Rechtsprechung kann auf Dauer keinen Bestand haben. Davon ist der Agrarwissenschaftler Jörg Gerke überzeugt.
Die bisherige Rechtsprechung deutscher Gerichte gegen die Ansprüche der Opfer politischer Verfolgung und Enteignung 1945 bis 1949 in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wird auf Dauer keinen Bestand haben. Davon ist der Agrarwissenschaftler und Unternehmensberater Jörg Gerke überzeugt. Warum? Weil sie so willkürlich und rechtswidrig ist. Das ergibt sich aus nunmehr umfassender juristischer Aufarbeitung.1) Gerke vertritt und begründet dies in einer neuen längeren Stellungnahme mit der Überschrift „Von der Bodenreform 1945/46 bis zur Bodenpolitik nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 – eine kritische Betrachtung“.
Großbetriebe vormaliger DDR-Agrar-Kader massiv begünstigt
Der promovierte und habilitierte Gerke ist einer der besten Kenner dieser Materie und der politischen Manipulationen in der ostdeutschen Landwirtschaft und Agrarpolitik; eigene Bücher und viele Beiträge zeugen davon. Diese Manipulationen sind gegen die bäuerlichen Betriebe in Ostdeutschland gerichtet und begünstigen dort massiv die heutigen privaten Großbetriebe der vormaligen Führungskader der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und Volkseigenen Güter (VEG) in der einstigen DDR. Gerke ist auch selbst Landwirt und bekommt das Geschehen seit Jahren vor Ort unmittelbar mit. Er bewirtschaftet in Mecklenburg seit 1996, privat erworben, ein ökologisches Landgut mit 350 Hektar.
1990 in die treulosen Hände des gesamtdeutschen Staates gefallen
Es geht vor allem um die Verteilung des Landes aus der sogenannten Bodenreform.2) Die DDR hatte sich seiner als „Volkseigentum“ bemächtigt, und mit der Wiedervereinigung von 1990 war es in die treulosen Hände des nunmehr gesamtdeutschen Staates gefallen. Treulose? Ja, denn dieser wollte das Land an die seiner beraubten Eigentümerfamilien (Alt-Eigentümer) nicht herausrücken. Und will es immer noch nicht – soweit davon überhaupt noch etwas übrig ist, denn er hat es mit Hilfe der Treuhand/BVVG verkauft und verkauft auch noch den Rest. Auch die ostdeutschen Länder verkaufen ihren Beuteanteil. Das sind jene Flächen, die sie nach1990 den Erben von Bodenreformland, einstigen DDR-Bürgern, brutal wieder abgenommen haben.3) Mehrere Untersuchungen, schreibt Gerke, hätten gezeigt, dass die Flächen in Staatsbesitz zu niedrigen Preisen ostdeutschen Großbetrieben zugeschustert würden, vor allem ehemaligen DDR-Agrarkadern, aber auch Betrieben westdeutscher Agrarfunktionäre. Bäuerliche Betriebe würden benachteiligt, gingen weitgehend leer aus. Das erkläre die Abwesenheit bäuerlicher Betriebe in Ostdeutschland gerade dort, wo die öffentliche Hand nach 1990 besonders hohe Anteile an landwirtschaftlicher Nutzfläche in Besitz gehabt habe.
BVVG als GmbH, um Missbräuche zu verschleiern
Gerke schreibt: „Der Umgang mit den Flächen der Bodenreform nach der Wende ist charakterisiert durch Willkür, Rechtsbrüche und eine kartellartige Verteilung der Flächen in einem solchen Ausmaß, dass dieser in einem demokratischen Staatswesen keinen Platz haben sollte. Wie anders ist es beispielsweise zu erklären, dass die Bundesregierung die Organisation, die als Aufgabe die Privatisierung von mehr als 1,6 Millionen ha Land- und Forstwirtschaftlicher Flächen hatte und hat, die Bodenverwertungs- und Verwaltungsgesellschaft (BVVG), als GmbH organisiert hat? So ein großes Immobilienvermögen wurde konzentriert in einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Den Verantwortlichen war offenbar klar, dass bei dem Umgang mit diesen Flächen gegen elementare Regeln verstoßen werden würde. Um diese Missbräuche zu verschleiern, hat sich die BVVG bei Anträgen auf Akteneinsicht in die Unterlagen, ab 2005 nach dem Informationsfreiheitsgesetz, mehrfach darauf berufen, dass sie keine Behörde sei. Die Tätigkeit der BVVG sollte im Dunklen bleiben.“
Eine mächtige Lobby verhindert eine breitere Landverteilung
Dieses einstige Bodereformland, das des Bundes und das der neuen Länder, wurde nach der Wiedervereinigung zunächst nur verpachtet, aber fast ausschließlich an die LPG-Nachfolgegesellschaften, die alle landwirtschaftliche Großbetriebe sind. Und als die staatliche BVVG die Flächen verkaufte, bediente sie deren Pächter mit Vorrang. So konnten diese Betriebe groß bleiben. 1945 waren die enteigneten Güter mit über 100 Hektar im Durchschnitt nur etwas mehr als 400 Hektar groß. Heute verfügen die Großbetriebe, wie Gerke schreibt, über 1000 Hektar und haben den größeren Teil der ostdeutschen Agrarfläche in der Hand. In Sachsen, Thüringen und Teilen Sachsen-Anhalts, schreibt Gerke, habe bis 1945, sogar bis zur Zwangskollektivierung 1960, die bäuerliche Landwirtschaft dominiert. Heute aber seien die Strukturen denen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ähnlich und weitgehend agrarindustriell ausgerichtet. Von der ostdeutschen Bodenpolitik profitieren, so Gerke, nur wenige tausend ostdeutsche Großagrarier. Dadurch benachteiligt ist in Ostdeutschland fast die gesamte ländliche Bevölkerung. „Eine mächtige Agrarlobby aus Deutschem Bauernverband (DBV), ostdeutschen Landesbauernverbänden, die sich aus der Organisation der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) der DDR nach der Wende und DDR-Agrarkadern in den ostdeutschen Parteien bildete eine Front, die bis heute einen angemessenen Umgang mit der Bodenreform verhindert.“
Die Bodenreform war nicht nur eine bloße Landumverteilung
Breiten Raum nimmt in Gerkes Darstellung ein, warum die Bodenreform nicht nur eine bloße Landumverteilung von Großen zu Kleinen, nicht von Besitzenden zu Besitzlosen war, sondern eine menschenrechtsverletzende, grob rechtsstaatswidrige politische Verfolgung schlimmster Weise und ein kommunistischer Klassenkampf. Er stützt sich hier auf historische Untersuchungen und jüngere wie jüngste umfangreiche juristische Arbeiten, im Wesentlichen die von Johannes Wasmuth (zusammen mit Albrecht Kempe) und Thomas Gertner.
Wie eine Rehabilitierung auch nach dem Gleichheitsgrundsatz möglich wäre
Gertners juristische Argumentation nennt Gerke deswegen interessant, weil sie möglicherweise den höchsten bundesdeutschen Gerichten die Möglichkeit der Korrektur erlaube und anschlussfähig sei an bisherige Urteile. Nach Gertner habe der Gesetzgeber die Rehabilitierung von Opfern der Boden- und Industriereform verhindern wollen, indem er für diese Gruppe das Ausgleichsleistungsgesetz beschlossen habe. Eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht könne deswegen zum Erfolg führen kann, weil der Ausschluss der Personengruppe der Opfer der Boden- und Industriereform von einer möglichen Rehabilitierung verfassungswidrig und grundgesetzwidrig sei. Es gehe auch hier nicht allein um Rückgabe, sondern um strafrechtliche Rehabilitierung, in Verbindung mit der Rückgängigmachung des Vermögensentzuges. Eine solche Rehabilitierung sei für Bewohner der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 möglich gewesen. Es widerspreche dem Gleichheitsgrundsatz, dass dies für die Opfer der Boden- und Industriereform in der ehemaligen SBZ bis heute nicht möglich sei. Gertners Argumentation könne auch die politische, behördliche und richterliche Unwilligkeit durchbrechen, die Opfer der Bodenreform angemessen zu rehabilitieren; sonst sei der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz für die Opfer der Bodenreform in der SBZ und den Westzonen durchbrochen. In der Tat ist das, was in der SBZ als „Bodenreform“ ablief, etwas ganz anderes gewesen als die (sehr bescheidene) rechtstaatlich legitimierte Bodenreform in den drei Westzonen.
Eine juristische Aufarbeitung, die Sprengkraft hat
Die nunmehr umfassende juristische Aufarbeitung der Gesetzes- und Rechtslage ergibt: Die Opfer der politischen Verfolgung, verharmlosend genannt Bodenreform, haben schon mit den bestehenden gesetzlichen Regelungen Anspruch auf Rehabilitierung und Vermögensrückgabe (bzw. Aushändigung des staatlichen Verkaufserlöses), werden aber trotzdem von Ämtern und Gerichten widergesetzlich und rechtsbeugend abgewiesen. Gerke misst dem „Sprengkraft“ zu und schreibt: „Fast unbemerkt von der öffentlichen Diskussion hat in den letzten Jahren der juristische Diskurs über die Bodenreform eine Richtung genommen, die mittel- und langfristig eine Neubewertung zur Folge haben wird.“
Hoffnung, dass die Justiz aus ihrer argumentativen Sackgasse herauskommt
Gerke zieht aus den von ihm vorgestellten juristischen Argumentationen den Schluss, bundesdeutsche Justiz – vom Landgericht bis zum Bundesverfassungsgericht – hätten sich in dem Bestreben, jede Rückgabe landwirtschaftlicher Flächen aus der „Bodenreform“ zu verhindern, in eine argumentative Sackgasse begeben. Es bestehe die Hoffnung, dass es in Zukunft in breitem Maße zu Rehabilitierungen, verbunden mit Teilrückgaben kommen werde. Ob sich dann aber für die ostdeutsche Agrarstruktur wirklich eine breitere Streuung landwirtschaftlichen Eigentums ergäbe, wie Gerke meint, ist sehr unrealistisch. Dafür ist es schon zu spät, dafür hat sich die Agrarstruktur eigentumsrechtlich schon zu sehr verfestigt. Doch bestünde der Erfolg geänderter und rechtsstaatlicher Rechtsprechung immerhin in einem kleinen Stück Rechtsfrieden. Das volle Stück ist leider nicht mehr zu haben. Dafür sind die Rechtsbrüche zu schwer gewesen, sind zu lange her und daher letztlich nicht mehr heilbar.
1) Ausführliches hierzu unter:
https://kpkrause.de/2013/04/25/wie-deutsche-rechtsprechung-versagt/
https://kpkrause.de/2012/03/22/wo-die-wiedergutmachung-noch-immer-fehlt/
https://kpkrause.de/2009/07/10/gerichte-verharmlosen-kommunistisches-unrecht/
2) Zur Bodenreform und Zwangskollektivierung siehe auch hier:
https://kpkrause.de/2012/06/07/wer-kennt-schon-merxleben/
https://kpkrause.de/2011/09/21/eine-familie-um-18-millionen-euro-gebracht/
https://kpkrause.de/2011/03/13/zwangskollektivierung-was-war-das-eigentlich/
3) Ausführlich hierzu:
https://kpkrause.de/2013/04/23/immer-wieder-und-immer-noch-das-bodenreformland/