Wem gehört ein Land?

Gehören die USA den Indianern? Gehört die Krim den Russen, den Ukrainern? – Ein Leserbrief mit Rückblick in Geschichtliches, der unveröffentlicht blieb

Üblicherweise ist es so: Leserbriefe, die eine Zeitung bekommt, kann sie bei weitem nicht alle veröffentlichen. Sie muss also entscheiden: welche ja, welche nein? Dabei hat sie stets über drei Arten von Zuschriften zu befinden: über solche, die einem Artikel zustimmen, ihn ergänzen oder ihm widersprechen. Honorige Redaktionen, ausgestattet noch mit journalistischer Tugend und diesbezüglichem Ehrenkodex, werden bemüht sein, ihrem Publikum aus allen diesen drei Arten ein abgewogenes Gemisch zu bieten. Aber in zu vielen Redaktionen hat sich seit schon vielen Jahren gesinnungsethisches Denken breitgemacht. Statt in sachlich-objektiver Kühle verantwortungsethisch zu entscheiden, verfahren sie emotional und geben sich hin der eigenen Gefühlslage. Groß ist demnach die Neigung, solchen Inhalten Vorrang zu geben, die dieser Gefühlslage entsprechen.

Das gilt für den gesamten Inhalt der Zeitung, nicht nur für Leserbriefe, aber eben auch für sie. So unterliegen Redaktionen der Versuchung, Zuspruch eher zu bevorzugen. Ihnen dagegen eher unwillkommen sind Widerspruch oder Ergänzung durch Leser, zumal entscheidungsrelevante. Doch wird beides, um die Einseitigkeit notdürftig zu übertünchen, nicht völlig unterdrückt. Aber die nun folgende Leserzuschrift an die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) hat deren Redaktion nicht veröffentlicht – aus welchen Gründen auch immer. Der Brief enthält für den Ukraine-Krieg in Sachen Krim zusätzliche historische Informationen. Sein Autor ist ein mir gut bekannter und nicht unkundiger deutscher Bürger. Mit dessen Zustimmung gebe ich den Inhalt zumindest an dieser Stelle zur Kenntnis. Die Zwischenüberschriften sind von mir eingefügt.

Auf die Frage im Brief, wem ein Land gehört, ist eine direkte Antwort schwerlich zu erwarten. Wohl aber regt sie zum Nachdenken darüber an, wem alles  eine Weltgegend schon einmal „gehört“ hat, auch eine wie die, um die es im Ukraine-Krieg geht,  und dass die Antwort alles andere als einfach ist.

Von Dr. Hermann Hinsch, Hannover

Ist die Krim verhandelbar? Unter diesem Titel schreibt die HAZ*) über den Streit um die Krim. Für den russischen Präsidenten gibt es nichts zu verhandeln, für den ukrainischen Komiker und Präsidenten Selenskyj auch nicht. Dieser sagt, alles muss zurückgewonnen werden, „was uns gehört“.

Wem gehört aber ein Land? Gehören die USA den Indianern? Vor 1900 sagten auch Engländer und Franzosen, dass Kamerun, Togo und Ostafrika dem Deutschen Reich gehören würden. Leider ist es immer noch so, wie Bismarck sagte: „Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden…, sondern durch Eisen und Blut.“

Der Sekt war schon kalt gestellt

Die USA haben aus irgendeinem Grund beschlossen, Russland niederzumachen, mit Sanktionen und Kriegen, die zunächst andere führen sollen. Ein Erfolg in dieser Richtung wäre eine Flottenbasis in Sewastopol auf der Krim gewesen. Aber die Annexion durch Russland kam zu schnell.  Auf der Krim wird erzählt, es wären 2014 schon eine Menge höherer amerikanischer Militärs vor Ort gewesen, das Siegesfest war vorbereitet, der Sekt kalt gestellt. Aber sie wurden enttäuscht.

Staaten, die gegen ihre eigenen Interessen für die USA arbeiten und kämpfen sollen 

Die USA geben nicht auf und suchen für sie hilfreiche Staaten, die ganz gegen eigene Interessen für die Amerikaner arbeiten und kämpfen sollen, mit absurden Behauptungen wie kürzlich in der Zeitschrift Foreign Affairs: Die russische Kontrolle über die Krim sei nicht nur ein Sicherheitsrisiko für die Ukraine, sondern für die ganze Welt. Moskau übe von der Halbinsel aus nicht nur Macht über das Schwarze und das Asowsche Meer aus, sondern auch über Europa und den Nahen Osten.

Deutschland sollte sich aber nicht als Lakai den Amerikanern unterordnen, sondern eigene Interessen verfolgen. Dazu gehört auch bezahlbares Erdgas. Wie kann man sich mit seinem wichtigsten Gaslieferanten verfeinden!

Soll man alle Krimtataren nach Deutschland holen? 

Interesse und Mitleid für seine Sache gewinnt man durch die Schilderung persönlicher Schicksale. Daher erwähnt die Zeitung eine Tatarin Elmira von der Krim. Dort seien die Tataren seit der russischen Annexion (2014) schweren Repressalien ausgesetzt. Die auf der Welt allgemein übliche Lösung solcher Probleme: Man kommt nach Deutschland. Elmira hat Tochter und Enkel mitgebracht.

Soll man alle Krimtataren nach Deutschland holen? Es sind etwa 280.000 Personen, nicht viel mehr als die halbe Bevölkerungszahl Hannovers. Es ginge also. Oder sollen sie auf der Krim bleiben, weil sie dort zumindest für die amerikanische Propaganda von Nutzen sind?

Man bekommt eine gewisse Vorstellung von der Situation, wenn man die dortige Geschichte ein wenig kennt. Zu dürftig und auch irreführend ist da die Erklärung in der Zeitung: „Sie alle sind Krimtataren, Angehörige jener turksprachigen Minderheit muslimischen Glaubens, die von jeher auf der Schwarzmeer-Halbinsel Krim beheimatet waren.“

Krimtartaren, Turkvölker, Turksprachen 

Die Krimtataren sind eins der etwa 40 Turkvölker, die von der Türkei bis China leben. Sie hatten sicher einmal eine gemeinsame Sprache, die sich aber in historischer Zeit in Regionalsprachen aufspaltete, aber nicht sehr. Im Lexikon liest man (H.F. Wendt, Sprachen, Fischer Bücherei): „Türksprachen. Mit Ausnahme des Tschuwaschischen sind die Türksprachen sowohl im grammatischen Bau als auch im Grundwortschatz so nahe mit einander verwandt, daß sich ihre Sprecher auf dem ganzen Verbreitungsgebiet von Osteuropa und dem Kaukasus bis nach Zentralasien und Sibirien zumindest notdürftig miteinander verständigen können.“

Die Türken unter Dschingis Khan und seinen Nachfolgern

Gab es einmal ein türkisches Reich, was dann zerfallen ist? Nein, die Türken waren ein ganz unbedeutendes, aber vermehrungsfreudiges nomadisches Steppenvolk, das aber als Unterschicht in viele Staaten einsickerte und dann dort die Macht übernahm. Unter Dschingis Khan und seinen Nachfolgern unterwanderten die Türken Verwaltung und Armee, bis man nicht mehr mongolisch sprach und türkisch Verkehrs- und Verwaltungssprache war. (Übrigens, in der Stadt Hannover haben wir schon einen türkischen Oberbürgermeister).

Als die Mongolen am Schwarzen Meer herrschten

Die Mongolen – damals schon weitgehend türkisiert – eroberten 1237/38 die russischen Fürstentümer im Osten und Norden und 1240 Kiew. Damit beherrschten sie das ganze Gebiet am Schwarzen Meer, und man kann ziemlich genau sagen, wann die Tataren auf die Krim kamen, nämlich kurz nach den obigen Ereignissen. Sie gehörten zum mongolischen Reich.

Auf der Krim waren die Tataren eine Minderheit, aber sie beherrschten die Krim noch lange nach dem Untergang des mongolischen Reiches. Kasan wurde 1551 von den Russen erobert.

Wirtschaft war nicht so die Sache der Krimtataren, produktive Arbeit überließen sie denen, die schon länger dort lebten. Der Khan ließ sich seinen Palast in Bachtschissaraj 1531 von einem italienischen Architekten entwerfen.

Das Aus der Tatarenherrschaft auf der Krim 1783 durch Russland 

Die Russen unter der Zarin Katharina besetzten die Krim 1783, und mit der Tatarenherrschaft war es aus. Vor allem Russen wanderten ein, so dass die Tataren nur noch 12 % der Bevölkerung ausmachen.

Das Verhältnis dieser Krimtataren zu den Russen ist nicht gut, da diese im Krieg mit der deutschen Wehrmacht zusammengearbeitet haben und immer noch erklären, sie wären lieber bei der Ukraine. Aber wird sich das Verhältnis nicht irgendwann normalisieren? Denn sonst kommen die Russen gut mit den Turkvölkern innerhalb des Reiches aus. Das größte diese Völker sind die in und um Kasan lebenden Kasaner Tataren, über 5 Millionen. Allgemein wird berichtet, wie entspannt dort die Situation ist. Oder will man diese Turkvölker gegen die russische Regierung aufwiegeln, und sie, wenn sie dabei in Schwierigkeiten kommen, nach Deutschland holen?

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*)  Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 12. Januar Krieg in der Ukraine: Ist die Krim im Zuge von Friedensgesprächen verhandelbar? (haz.de).

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