Zum 90. Geburtstag des Frankfurter Philosophen wird auch an seine Heidegger-Rezension in der FAZ von 1953 erinnert, die ihn schon als Student bekannt machte – Die Kritik von Jörg Gerke: Empörungsbereit gegenüber Hitler, duldsam gegenüber Stalin – Horkheimer und Heidegger: der eine geehrt, der andere diffamiert – Heideggers Bruch mit dem NS-Regime schon 1933 – Habermas und die Fortsetzung der Marx’schen Kapitalismuskritik – Die „Kritische Theorie“ der „Frankfurter Schule“ als westeuropäische Variante des Marxismus
Jürgen Habermas ist 90 geworden. Allenthalben werden er und sein Werk gewürdigt. Für den Berliner Tagespiegel gehört der deutsche Soziologe und Philosoph „zu den einflussreichsten Denkern unserer Zeit“ (hier). Für die Tageszeitung Die Welt ist er „der berühmteste lebende deutsche Intellektuelle“ (hier), für die Süddeutsche Zeitung – so der Titel ihrer Würdigung – „Der Philosoph der Öffentlichkeit“ (hier). Der Deutschlandfunk nennt ihn den „Oberaufseher des öffentlichen Diskurses“ und „eine Art intellektuelle deutsche Weltmarke“ (hier). Auch „Frankfurter Feuerkopf“ wird er genannt, „der Aufklärer“, eine philosophische „Weltmacht“ gar (hier). Und streitbar. Sie alle bescheinigen ihm in unterschiedlicher verbaler Ausprägung „Kompromisslose Anwendung der Vernunft“ (Deutschlandfunk a.a.O.). Durchweg auch erinnern die vielen Würdigungen am ersten Auftauchen von Habermas in der Öffentlichkeit und womit er sich damals bemerkbar machte.
Die Habermas-Rezension einer Heidegger-Vorlesung 1953 in der FAZ
Das ist 1953 gewesen, als er gegen Heidegger rebellierte. Im Deutschlandfunk heißt es dazu: „An entsprechendem Selbstbewusstsein hatte es Habermas schon nicht gefehlt, als er sich 1953 mit dem philosophischen Großmeister Martin Heidegger anlegte. Der 24-Jährige gab damals in der „FAZ“ zu verstehen: Der rationale Teil in Heideggers Werk lässt sich retten, der nicht-rationale, weltanschaulich vergiftete Teil muss weg.“ ). Und weiter: „Im Jahr 1953 veröffentlicht Martin Heidegger eine Vorlesung, die er während des Nationalsozialismus an der Freiburger Universität gehalten hatte. Als junger Philosophiestudent rezensiert Jürgen Habermas diesen Heidegger-Text für die ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung’. In seiner Besprechung zeigt Habermas auf, dass der berühmte Freiburger Philosoph in seiner Vorlesung unkommentiert von der – Zitat – ‚inneren Wahrheit und Größe’ der nationalsozialistischen Bewegung spricht. Diese aufsehenerregende FAZ-Rezension der Nachkriegszeit wurde die Geburtsstunde des Jürgen Habermas als öffentlicher Intellektueller.“ (hier).
Eine Rezension, die Habermas schon als Student bekannt machte
Gewundener (oder soll man sagen: intellektueller?) drückt es FAZ-Mit-Herausgeber Jürgen Kaube aus: „Die Auseinandersetzung mit dem Erbe der NS-Vergangenheit und den diskutierbaren Eindruck, dass es nach 1945 in Deutschland keinen Mentalitätswandel gegeben habe, hat er als Grundthemen seines erwachsenen politischen Lebens bezeichnet. Die Unfähigkeit nicht nur zur Trauer, sondern die Unfähigkeit zu lernen, war in Gestalt des für ihn zunächst maßgeblichen Philosophen, Martin Heidegger, kaum zufällig der Anlass jener Rezension in dieser Zeitung, die ihn schon als Studenten bekannt machte.“ (FAZ vom 18. Juni 2019, Seite 9 und hier).
Empörungsbereit gegenüber Hitler, duldsam gegenüber Stalin
Hier, an der Habermas-Rebellion gegen Heidegger, hakt Jörg Gerke*) mit seinem Beitrag „Zur Heidegger-Renaissance“ in der Vierteljahresschrift Tumult ein. Mit ihrem „Teaser“ gibt die Redaktion diese Einleitung: „Jürgen Habermas, der dieser Tage seinen 90. Geburtstag begeht, machte Stalin noch lange post festum in erster Linie weder Todeslager noch Holodomor**) zum Vorwurf, sondern die ‚bürokratische Entstellung’ des Sozialismus. Warum man im öffentlichen Diskurs über derlei zweifelhafte Positionierungen galant hinwegzugehen, auf Martin Heideggers NS-Intermezzo jedoch regelmäßig empörungsbereit zurückzukommen pflegt, fragt sich und alle unser Autor Jörg Gerke.“
Horkheimer und Heidegger – der eine geehrt, der andere diffamiert
Seinen Beitrag beginnt Gehrke so: „Zwei Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, Martin Heidegger und Max Horkheimer, haben auf totalitäre politische Strukturen reagiert, Martin Heidegger auf den NS-Staat und Max Horkheimer auf das sowjetische Rußland. Während aber Horkheimer bis heute als leuchtendes Beispiel eines kritischen Intellektuellen Beachtung und Beifall findet, wird Heidegger regelmäßig in mehr oder minder investigativen Publikationen wahlweise als NS-Philosoph, Faschist oder Vordenker des NS-Staates bezeichnet. Die unterschiedliche Würdigung in Deutschland wird jedoch dadurch abgemildert, daß das denkerische Werk Heideggers so unhintergehbar präsent ist, daß er der vermutlich meistgelesene und -diskutierte Philosoph des 20. Jahrhunderts ist. In Frankreich und Japan, vielleicht sogar in den USA, gilt er als Meisterdenker und einflussreichster Philosoph des 20. Jahrhunderts (Neske und Kettering, 1988; Figal, 2007).“
Heidegger von der NS-Ideologie auch damals „weit entfernt“
Gehrke weiter: „Die politischen Gastspiele Martin Heideggers trüben dieses Bild bekanntlich. Nach der Machtergreifung wurde er 1933 Rektor der Universität in Freiburg im Breisgau, trat in die NSDAP ein, zog sich allerdings bald bereits von diesem Posten zurück. Heidegger hat also kurzzeitig mit dem NS-System kollaboriert und diesem dabei seinen schon damals berühmten Namen geliehen. In diese Zeit fällt auch seine ‚Rektoratsrede’, in der er sich der Terminologie des NS-Systems nähert. Von der NS-Ideologie selbst war Heidegger auch in dieser Zeit weit entfernt. Allemann (1969, 2. Auflage 1994) und Vietta (1989) haben dies eindringlich aufgezeigt.“
Heideggers Bruch mit dem NS-Regime schon 1933
Aber spätestens Heideggers Rücktritt vom Rektorat habe die Kollaboration beendet. Seine Schriften nach 1934 dokumentierten dies gut. Begonnen habe Heideggers Bruch mit dem NS-Regime in Wahrheit schon 1933 bei seinem ersten Besuch in Karlsruhe. Dennoch werde Heidegger bis heute immer wieder als NS-Philosoph diskreditiert. Ein bedeutsamer Grundpfeiler der Diskreditierung sei 1953 errichtet worden, als Heidegger seine Vorlesung aus dem Sommersemester 1935 selbst veröffentlicht habe (Heidegger, 1935, 6. Auflage, 1998, Einführung in die Metaphysik). In der FAZ sei damals eine Rezension dieser Veröffentlichung durch den Philosophiestudenten Jürgen Habermas erschienen (wiederabgedruckt in Habermas, 1971 und 1987). Diese Rezension 1953 hat Habermas später nicht als leichtfertige Jugendäußerung revidiert, sondern in verschiedene Auflagen der „Philosophisch-politischen Profile“ aufgenommen (Habermas, 1971; 1987) und damit an der frühen Rezension festgehalten.
Der Vorwurf gegen Habermas
Gehrkes Vorwurf gegen Habermas lautet: So kritisch sich dieser gegenüber Heidegger wegen seines Rektorates während der NS-Zeit gezeigt habe, so bereitwillig habe er die beschönigende Charakterisierung des sowjetischen Systems von Horkheimer übernommen. Könne man für Horkheimers verniedlichende Charakterisierungen des sowjetischen Systems noch ein gewisses Verständnis aufbringen, so sei Habermas‘ Formulierung der bürokratischen Entstellung des Sozialismus noch in den 1980er Jahren so geschichtsverzerrend, dass es erstaune, dass ihm dies im öffentlichen Diskurs nicht vorgehalten worden sei. Den ganzen Beitrag von Gehrke können Sie hier lesen.
Als Habermas 1956 nach Frankfurt kam
Der linksintellektuelle Habermas war 1956 von Bonn nach Frankfurt gekommen. Das ist 63 Jahre her. Damals war er 27. Dort stieß er auf Horkheimer, auf Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse, um nur die bekanntesten Namen der „Frankfurter Schule“ der Philosophie zu erwähnen. Für diese Schule steht auch die Bezeichnung „Kritische Theorie“ der Philosophie. In Frankfurt, so schreibt FAZ-Kulturredakteur Michael Hierholzer, habe sich Habermas zum „Weltphilosophen“ entwickelt (hier). Das Magazin Focus schreibt über Habermas:
Habermas und die Fortsetzung der Marx’schen Kapitalismuskritik
„Als Vertreter der sogenannten ‚Kritischen Theorie’, eine Form der Fortsetzung der Marx’schen Kapitalismuskritik nach dem Scheitern oder Ausbleiben der proletarischen Revolution in den industriell entwickelten Ländern Europas, war er ein wichtiger Impulsgeber der Frankfurter Schule. So nannte sich ein Kreis von Intellektuellen, die Max Horkheimer, Sozialphilosoph und Leiter des Frankfurter ‚Instituts für Sozialforschung’, um sich geschart hatte. Ein Hauptmotiv ihrer Forschung betraf die Frage, warum das aufgeklärte Denken, das den Menschen durch ihre eigene Vernunft die Befreiung von Naturgewalten und Aberglauben brachte, in die Barbarei des Nationalsozialismus umschlagen konnte.“ (hier) Horkheimer hatte die Leitung des Instituts 1930 übernommen. Entstanden ist das Institut 1923. Während der Nazizeit wurde das Institut erst nach Genf, dann in die USA nach New York und Los Angeles verlegt. 1950 wurde es in Frankfurt am Main neu gegründet (Quelle hier).
Die „Kritische Theorie“ als westeuropäische Variante des Marxismus
Bei Wikipedia (hier) ist unter anderem zu lesen: „Als Kritische Theorie wird eine von Hegel, Marx und Freud inspirierte Gesellschaftstheorie bezeichnet, deren Vertreter auch unter dem Begriff Frankfurter Schule zusammengefasst werden. Ihr Gegenstand ist die kritische Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.“ Den ursprünglichen Namen „Kritische Theorie“ hat Horkheimer geprägt. Er ist während der Nazi-Zeit der eigentliche Schulgründer. Zur Namenswahl haben objektive und subjektive Gründe geführt. Der objektive Grund war, die eigene Position in der Hitler-Diktatur zu tarnen. Der subjektive war „Horkheimers Versuch, eine eigene ‚Version des Marxismus’ zu begründen“. Es sollte und soll sich um eine ‚west-europäische’ Variante des Marxismus handeln (Quelle hier).
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*) Jörg Gerke ist promovierter und habilitierter Agrarwissenschaftler. Näheres über ihn hier.
**) Zur Erklärung ist bei Wikipedia zu lesen: „Holodomor – Bittere Ernte (Originaltitel: Bitter Harvest) ist ein kanadischesFilmdrama des kanadischen Regisseurs ukrainischen Ursprungs George Mendeluk aus dem Jahr 2017. Der Film wurde in der Ukraine gedreht. In Bittere Ernte kämpfen zwei Liebende, Yuri und Natalka, darum die Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932–1933, zu überleben. Dabei nimmt der Film in der Bewertung der historischen Ereignisse die Position ein, dass es sich bei dem Holodomor um einen Völkermord unter Josef Stalin handelt. Vor diesem Hintergrund kämpft im Film der junge Künstler Yuri aus einer ukrainischen Kosakenfamilie darum, Hunger, Verhaftungen und Qualen zu überstehen und seine Geliebte Natalka aus der Hungersnot zu retten. Nachdem Yuri aus einem sowjetischen Gefängnis ausbricht, schließt er sich dem antikommunistischen Untergrundsbewegung an. Dort arbeitet er mit Natalka an der Unabhängigkeit der Ukraine.“
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