Wie die „Marktfreien“ alle anderen ausbeuten

Daher will ein Autor auch sie in die gesetzliche Sozialversicherung zwingen

Man liest ja so das eine oder andere Buch. Ich habe jüngst das von Alexander Dill gelesen. Er schreibt darüber, „wie im Windschatten der Weltfinanzkrise die Staatskassen geplündert werden“. Der Haupttitel: Der große Raubzug. Aber taugt das Buch was? Der Titel immerhin stimmt: Ein großer Raubzug findet in der Tat statt, und die Staatskassen werden in der Tat geplündert, wenn auch nicht erst im Windschatten der Weltfinanzkrise, sondern schon alle Jahre zuvor, nur jetzt in dieser Krise besonders heftig und gefährlich. Aber der Buchinhalt ist zu oft nicht wirklich ernst zu nehmen, allenfalls in der gefährlichen Wirkung seiner sehr linksgeprägten Polemik und Rattenfängertöne. Zutreffendes mischt sich mit Verquerem in der Interpretation und Absonderlichem in der Rezeptur.

Zwei Kategorien von Menschen

Die Menschen in Deutschland (und auch anderswo) teilt der Autor und diplomierte Soziologe Dill ein in zwei Kategorien: Die eine sind die „Marktteilnehmer“, die andere die „Marktfreien“. Die Marktteilnehmer sind den „Widrigkeiten des Marktes ausgeliefert“, die Marktfreien sind das nicht. Die Marktteilnehmer müssen alle staatlichen Lasten tragen, die Marktfreien nicht; sie müssen noch nicht einmal Sozialabgaben zahlen, also die gesetzlichen Zwangsabgaben für die Altersversorgung, für Arbeitslosigkeit, für Krankheit, für den Pflegefall. Ein Großteil der öffentlichen Mittel wird in Alexander Dills Augen dafür verwendet, die Marktfreien „auf Kosten der Marktteilnehmer abzusichern und von Steuern und Sozialabgaben freizustellen“. Und nur deshalb sei die Staatskasse notleidend, nur deshalb die Sozialversicherung defizitär, nur deshalb seien die Sozialabgaben so hoch.

Zielscheibe sind Beamte, Erben, Großverdiener …

Wer aber sind diese „Marktfreien“? Das sind für Dill „insbesondere Beamte und Erben“ (7) sowie Großverdiener und Vermögende. Aber auch Parlamentarier und Träger politischer Ämter. Oder wie er sie alle abstrakt definiert: „Angehörige von Gruppen, deren persönliche Einnahmen und Altersvorsorge nicht von den Schwankungen des Marktes abhängen“. Und irgendwie zählt Dill auch „eine neue Klientel“ hinzu, die um die „marktfreien Beamten herum“ entstanden sei. Von Seite 141 bis 143 führt er insgesamt dreizehn Berufsgruppen auf. Dagegen sind die Marktteilnehmer „Angehörige von Gruppen, die sich dem Druck von Angebot und Nachfrage unterwerfen müssen und deren persönliche Einnahmen und Altersvorsorge völlig davon abhängen, wie sich der Markt entwickelt“. Im Grunde werde nur noch die Hälfte der deutschen Bevölkerung den Marktmechanismen ausgesetzt.

Auch erfolgreiche Selbständige als „marktfrei“ hingestellt

„Marktfrei“ sind für Dill augenscheinlich auch die Selbständigen, die es zu etwas gebracht haben, daher mit ihrem Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Sozialversicherungspflicht liegen und folglich selbst für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflege aufkommen (müssen). Damit, so sieht es Dill, entziehen sie sich verwerflicherweise der staatlichen Obhut mit deren allgemeiner Versicherungspflicht, und ihre Beiträge gehen den öffentlich-rechtlichen Sozialkassen ungerechtfertigt verloren. Eben darum – so primitiv ist derartiges Denken – haben diese Kassen zu wenig Geld.

Offensichtlich also ist es für Dill unsoziales Verhalten, daß diese Marktfreien dem Staat mit ihren Bedürfnissen für Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit und Pflege nicht ebenfalls auf der Tasche liegen (wollen), sondern eigenverantwortlich handeln, weil sie vom Staat nicht wie Unmündige behandelt werden mögen. Dill aber will auch sie, die doch das Sinnbild der Marktwirtschaft darstellen und danach auch leben möchten, entmündigt sehen. Das ist Sozialismus pur. Wieso, um nur dies zu fragen, sind Erben „marktfrei“? Wieso hängen nicht auch Erben von den Marktschwankungen ab? Ihre Einnahmen aus Ererbten sind Marktschwankungen durchaus unterworfen, und die weitaus meisten Erben beziehen ihren Lebensunterhalt aus dem Ererbten nur zum Teil.

Daß die „Marktfreien“ auf Kosten der „Marktteilnehmer“ leben, durchzieht das ganze Buch. Und man fragt sich, warum Dill sie dann nicht offen und einprägsamer die „Ausbeuter“ nennt und die anderen die „Ausgebeuteten“. Warum scheut er davor zurück, was will er damit verbergen? Um nicht als Gegner von Markt und Marktwirtschaft zu erscheinen? Denn den Eindruck, für die Marktwirtschaft entschieden einzutreten, erweckt er in diesem Buch ansonsten nicht. Eher hat man den Verdacht, er wolle sie unterschwellig diffamieren, zumal er die Wohltaten des Marktes, die dieser auch den sonst doch Ausgebeuteten schon geboten hat und noch immer bietet, völlig ausblendet.

Wohl findet Ausbeutung statt, aber …

Ausbeutung zu nennen, was Dill jedenfalls zum Teil bewegt, ist durchaus gerechtfertigt. Denn Ausbeutung findet sehr wohl statt, und zwar durch den Staat und seine politische Führung: fiskalisch, sozialpolitisch, durch angemaßte Einmischung in Dinge des Lebens, die Sache der Bürger sein müssen, durch Ämteranhäufung, durch Bürokratieausweitung, durch das Sichern von Privilegien. Insofern ist die soziale Marktwirtschaft in der Tat zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft mit immer mehr Staatswirtschaft abgerutscht, die sie anfangs in ihren guten Zeiten nicht war.

Auch rechtlich sieht Dill in der sozialen Marktwirtschaft ein Zwei-Klassen-System, „in dem die Marktfreien ihre Stellung gegen die Marktteilnehmer mit allen Mitteln behaupten“. Weiter liest man: „Da die Gesetzgebung vollkommen in der Hand der Marktfreien liegt, kann dieses System weder durch Wahlen noch durch Klagen verändert werden. Im Prinzip reicht es für die Marktfreien, eine Große Koalition zu bilden, um jeden Angriff auf ihre Privilegien bereits im Vorfeld abwehren zu können. Dieses System verdient das Prädikat korrupt.“

In der Tat ein Zwei-Klassen-System

So ist es. Dieses Zwei-Klassen-System besteht aus der Politischen Klasse und allen übrigen. Zur ersten Klasse gehört die politische Führungsschicht der Parteien, der Parlamentarier, der Ministerien, des Beamtentums, der Justiz mit Staatsanwälten und Richtern, gehören Manager großer Unternehmen, Funktionäre von Gewerkschaften und anderen großen Verbänden. Dieses Zwei-Klassen-System hat aber der Rechtswissenschaftler Hans Herbert von Arnim schon immer wieder beschrieben, durchleuchtet und angeprangert, nur seriöser, fundierter, überzeugender und ohne sich auch nur dem Verdacht auszusetzen, Sozialismus zu wollen – zuletzt in seinem Buch „Die Deutschlandakte – Was Politiker und Wirtschaftsbosse unserem Land antun“ (2008). Diese Politische Klasse hat sich den Staat in der Tat „zur Beute gemacht“. Gründlicher als Dill geht auch Reginald Grünenberg in seinem radikalen Buch „Das Ende der Bundesrepublik“ (2008) zu Werk.

Was steht sonst noch in Dills Buch? Der Leser findet, wie das Finanzmarktstabilisierungsgesetz unter Umgehung von Haushaltsordnung und Grundgesetz verabschiedet wurde („480 Milliarden in fünf Tagen – das größte Geldwunder der deutschen Geschichte“) und wer die sieben Empfänger dieser Milliarden sind. Er findet, warum es in Deutschland keine Finanzaufsicht mehr gibt, wer die Gewinner der Weltfinanzkrise sind, welche Banken die deutschen Staatsanleihen bekommen, wann eine Regierung korrupt ist. Er liest vom Märchen der Mittelstandsförderung, von den Lügen des Finanzministeriums, vom Versagen der deutschen Volkswirtschaftler, von den „fünf Irrlehren“ der Volkswirtschaft: der Irrlehre vom Wirtschaftssystem, vom Wachstum, vom Markt, von Angebot und Nachfrage, vom globalen Wettbewerb.

Dills Liste der „Hauptverantwortlichen“

Er kann sich laben an einer Liste von 47 wohlbekannten Personen, die Dill als „die bisher bekannten Hauptverantwortlichen für die staatlichen Verluste mit verbrieften US-Hypotheken in Deutschland“ bezeichnet. Sie beginnt mit Josef Ackermann und endet mit Ernst Welteke. Auch Angela Merkel, Horst Köhler, Peer Steinbrück und sein Staatssekretär Jörg Asmussen, Hans Eichel, Joschka Fischer, Walter Riester, Roland Berger, Peter Bofinger, Bert Rürup, Hans-Werner Sinn, Edmund Stoiber und Hans Tietmeyer stehen darauf (164-168). Eine weitere Liste mit 84 Namen soll vermitteln, „wie die volkswirtschaftlichen Forschungsinstitute für ökonomische Tiefenanalyse zu Propagandaagenturen für die Ausraubung der Staatskasse werden konnten“. Es sind die Namen derjenigen, die im Kuratorium des staatlich finanzierten ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung von Hans-Werner Sinn in München sitzen. Und bei den meisten fragt man sich, was die da eigentlich zu suchen haben.

Entlassen wird der Leser mit dem Schlusskapitel „Wie eine einzige Reform den Staatshaushalt sanieren könnte“. Dill will den Staatshaushalt sanieren und dafür sorgen, daß er dauerhaft ausgeglichen bleibt. Das ist gewiß ein löbliches Ziel. Aber seine Reform besteht darin, alle Beamten sofort in die gesetzliche Sozialversicherung aufzunehmen und allen Pensionären sofort eine Einheitspension von monatlich nur 1200 Euro zu zahlen. Das liege in der Nähe der Durchschnittsrente in der gesetzlichen Rentenversicherung. Auch alle anderen „Marktfreien“ sollen natürlich zwangsvereinnahmt werden, die Selbständigen, die gut Verdienenden, die Vermögenden. Dann wird schon alles gut. Eine Sozialabgabe von 5 Prozent auf die Vermögens- und Unternehmenseinkommen bringe bereits 32 Milliarden Euro ein, und zusammen mit Dills Reform der Rentenversicherung werde das für einen dauerhaft ausgeglichenen Staatshaushalt sorgen. Der Reformvorschlag ist windig, die Rechnung auch nicht hinreichend erklärt und daher schwer nachvollziehbar.

Nur etwas für Rattenfänger

Vieles zwar im Buch ist richtig beobachtet und dargestellt, zuviel aber nur halbwahr, ungar und schief. Irrlehren, die Dill anderen vorwirft, enthält auch sein Buch. Um sie offenzulegen, müsste man detailreich Absatz für Absatz vorgehen. Das allerdings würde den Platz für eine solche Buchvorstellung sprengen, sie ist – Vergebung – ohnehin schon zu lang. So mögen denn das Offenlegen im Einzelnen nationalökonomische Wissenschaftler in einem Gegenbuch besorgen. Nötig wäre es, damit den Menschen, die Besseres als Dills Vorstellungswelt verdient haben, gefeit sind. Denn für die Partei „Die Linke“ und Teile der SPD und Grünen, also für politische Rattenfänger, taugt das Buch als Wahlkampfmunition. Zuviele unkundige Deutsche werden dafür empfänglich sein.

Alexander Dill: Der große Raubzug. Wie im Windschatten der Weltfinanzkrise die Staatskassen geplündert werden. FinanzBuch Verlag GmbH, München 2009. 237 Seiten. 19,90 Euro.

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Ein Kommentar zu „Wie die „Marktfreien“ alle anderen ausbeuten“

  1. Guten Tag, Herr Dr. Krause! Vielen Dank zunächst für Ihre ausführliche Besprechung. Ich freue mich sehr, daß Sie meine gesellschaftspolitische Hauptthese der Unterscheidung von “Marktfreien” und “Marktteilnehmern” im Durcheinander der Finanzkrise und der Verluste der Staatsbanken so deutlich herausgearbeitet haben. Natürlich freue ich mich ebenso, mit dem von mir geschätzten Herren von Arnim in Verbindung gebracht zu werden.
    In einem Punkt allerdings muß ich Ihnen doch widersprechen: Die Selbstvorsorge von Selbstständigen – ich bin selbst seit 20 Jahren selbstständig – war und ist für mich nie unsozial. Zu keinem Zeitpunkt habe ich erfolgreiche Selbständige als „Marktfreie“ dargestellt, sondern im Gegenteil die „Mittelstandslüge“ angeprangert, die insbesondere von den staatlichen Banken weiter verbreitet wird.
    Da aber der Zuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung 2008 78,3 Mrd Euro betrug – also fast doppelt so viel wie die Zinsen der Staatsschuld – die Aufwendungen für 1,5 Millionen Pensionäre 65 Mrd betrugen, entsteht eine einseitige Lastenverteilung des Sozialstaates.

    Das von mir vorgeschlagene System der Einbeziehung von Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung wird sehr erfolgreich in Österreich und in der Schweiz praktiziert. So wird u.a. auch der Altersarmut vorgebeugt.
    Es hindert aber keinen Gutverdiener, nicht auch noch zusätzliche Privatvorsorge zu treffen. Nur: Ein Gesamtdefizit von 130 Mrd Euro jährlich nur in der Altersversorgung führt in den Staatsbankrott und in die Zerstörung des an sich gerade in der Finanzkrise stabilen Umlagesystems.

    Auch an einer Form von Vermögenssteuer führt kein Weg vorbei, wenn man mit dem Schuldenmachen auf Kosten der kleinen Steuer- und Abgabenzahler Schluß machen möchte. Ich darf daran erinnern, wie z.B. in der Schweiz selbstgenutztes Wohneigentum besteuert wird, in dem die fiktive Miete als zu versteuerndes und mit 9,5% Sozialabgaben behaftetes Einkommen angesehen wird!
    Daran ist nichts sozialistisch, denn auch sozialistische Staaten – etwa die DDR – haben sich hemmungslos verschuldet und auch in ihnen herrschte eine Zweiklassengesellschaft.
    Zitat Ludwig Erhard 1957: “Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet. Die Neugestaltung unserer Wirtschaftsordnung mußte also die Voraussetzungen dafür schaffen, daß dieser einer fortschrittlichen Entwicklung entgegenstehende Zustand und damit zugleich auch endlich das Ressentiment zwischen ‘arm’ und ‘reich’ überwunden werden konnte.”
    Die Ideologen der “Neuen Initiative Soziale Marktwirtschaft”, die Politiker und ihre beratenden Volkswirtschaftler haben jeden Sinn für die Dramatik der Situation verloren. Das Versagen der Nationalökonomie liegt ja noch nicht einmal darin, die Finanzkrise zu spät erkannt zu haben, sondern auf religiösen Paradigmen aufzubauen, wie sie etwa in dem 2005 veröffentlichten „Hamburger Appell“ http://www.finanzbuchverlag.de/mediafiles/uploads/fbv/dill-raubzug/16_Das_Versagen_der_deutschen_Volkswirtschaftler/Hamburger_Appell_2005.pdf deutlich werden, der von allen maßgeblichen Professoren der Volkswirtschaft unterzeichnet wurde.
    Insofern werden Sie auf ein Gegenbuch vergeblich hoffen, da sich nun alle bemühen, schnell zu Krugman und Stiglitz zu wechseln.

    Die Soziale Marktwirtschaft kann nur weiterbestehen, wenn sie auch sozial bleibt.
    Daß Unternehmer wie ich überhaupt solche Bücher schreiben, zeigt doch, daß von SPD, Linkspartei und Grünen keine Veränderung ausgeht, sondern daß diese in einem alten Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Schema festsitzen.
    Wissen Sie, daß die Quote von Neuselbständigen in den letzten Jahren von 2,7% auf 1,5% zurückgegangen ist?
    Und jetzt stellen Sie bitte den Zusammenhang zum “politischen Rattenfänger” her, der ich Ihrer Meinung nach sein soll!
    Steuerzahler, kleine wie große, sind keine Ratten, sondern sie haben Anspruch darauf, daß ihr Steuergeld zum Wohle der Allgemeinheit, nicht nur zur Marktfreistellung einzelner eingesetzt wird.
    Es wäre schön, wenn sich die Regierung selbst der Reform annehmen würde, anstatt durch eine Neuverschuldung von fast 400 Milliarden Euro in 2009 die Staatskassen zu ruinieren.
    Aber dies verhindern in erster Linie deren Ratgeber mit der auch nach der Krise endlos wiederholten Drohung, die Vermögenden werden dann ihr Kapital und damit die Arbeitsplätze aus Deutschland abziehen.
    Wohin aber? In die Schweiz, die ein funktionierendes Steuer- und Sozialsystem hat, sicher nicht.
    Mit besten Grüßen Ihr Alexander Dill
    P.S.: Ich bin schon gespannt auf Ihre Antwort!

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