Sündenbock für die große Finanzkrise
Die einen glaubten, es schon immer zu wissen, die anderen glauben, es jetzt zu wissen, aber nun sollen wir alle übrigen es ebenfalls glauben: Das große Desaster an den Finanzmärkten mit seinen Bankenzusammenbrüchen ist eine Ausgeburt des Neoliberalismus, eine zwangsläufige gar. Dass die Menschen Angst um ihr Erspartes haben müssen, dass sich der Staat zu Rettungsaktionen gezwungen sieht, dass es zu schlimmen Folgewirkungen auf den Märkten für Waren und Dienstleistungen kommen kann (was sich am Einbruch der Autonachfrage schon bemerkbar macht) – dies alles habe die Menschheit nur dem Neoliberalismus zu verdanken, es wäre über sie nicht hereingebrochen, wenn ihr ein paar versponnene Liberale, Ökonomen und Juristen den Neoliberalismus nicht aufgedrängt hätten, wenn es diese bösartige Idee gar nicht erst gegeben hätte.
Nehmen wir zum Beispiel die aparte Vorsitzende der Jungsozialisten Franziska Drohsel (28). Im Politikteil der FAZ zur Finanzkrise befragt (Ausgabe vom 10. Oktober 2008), sagte sie: „Der Neoliberalismus ist am Ende.“ Sie setzte ihn, wie sich im weiteren ergab, mit „den Auswüchsen des ungebändigten Kapitalismus“ gleich. Bei Franziska Drohsel wundert man sich über die Gleichsetzung nicht, bei anderen, die es, wenn auch feinsinniger, ebenfalls tun, aber schon.
Der Rechtswissenschaftler Rolf Stürner schrieb, das Lebensgefühl des überzeugten Neoliberalen könne man kaum besser zum Ausdruck bringen, als dass er an den Staat nur einen Wunsch habe: „Geh mir aus der Sonne.“ (FAZ vom 9. Oktober 2008). Das erweckt den Eindruck, der Neoliberalismus lehne den Staat ab. Aber das Gegenteil ist der Fall.
Frank Schirrmacher schrieb im Leitartikel des FAZ-Politikteils, Millionen Deutsche seien während des letzten Jahrzehnts gedrängt worden, „ihr Leben neoliberal umzustellen, den Finanzmärkten zu trauen und dem Staat zu mißtrauen“ (Ausgabe vom 11. Oktober 2008). Auch hier der Eindruck: Ohne Neoliberalismusgedrängel wäre uns diese Superkrise erspart geblieben.
Berthold Kohler, ebenfalls in einem FAZ-Leitartikel, meinte, der „Neoliberalismus“ – er setzte ihn in Anführungszeichen – habe Deutschland kaum mehr als rhetorisch im Würgegriff gehabt und sei schon seit der letzten Bundestagswahl erledigt (Ausgabe vom 9. Oktober 2008). Demnach ist der „Neoliberalismus“ also eher nur rhetorischer Natur gewesen, jedenfalls in Deutschland, aber das boshafte Verdikt „Würgegriff“ wird ihm immerhin verpasst und ist damit nun auch bei der FAZ in der Welt.
Franziska Drohsel hat ja recht: Die Finanzmärkte waren ungebändigt, und das hatte die schlimmen Auswüchse zur Folge. Aber Neoliberalismus war das nicht. Eben den hat es dort nämlich gar nicht gegeben. Ohnehin hat die Krise mit Staats- und Politikversagen begonnen. Hans D. Barbier schrieb: Sicher ist: Ohne eine Menge Politikversagen wäre der Kapitalmarkt nicht unter diesen Streß gesetzt worden. Das erklärt nicht alles. Aber es sollte nicht außer Acht bleiben.“ (FAZ-Wirtschaftsteil vom 10. Oktober 2008)
Neoliberale Politik wird heutzutage verunglimpft, als „Marktradikalismus“ diffamiert, als eine Politik der „sozialen Kälte“ hingestellt, das Wort Neoliberalismus als politischer Kampfbegriff von Linken, von Sozialisten und ganz anderen (siehe oben) ohne Rücksicht auf seinen wahren Gehalt mißbraucht und, wer für Neoliberalismus eintritt, polemisch attackiert. Matthias Müller von Blumencron wäre, so las man im Magazin Cicero (3/2008, Seite 74), alleiniger Chefredakteur des Magazins „Spiegel“ geworden, hätte er nicht durchblicken lassen, er werde den neoliberalen Gabor Steingart zu seinem Stellvertreter ernennen.
Viele Bürger teilen die verleumderischen Ansichten über Neoliberale offenbar oder nehmen sie gleichgültig hin. Die Jungen wissen nicht und die Alten wissen nicht mehr (oder haben vielleicht nie gewusst), dass von 1948 an Ludwig Erhards Wirtschaftspolitik der Sozialen Marktwirtschaft nichts anderes war als eben die Politik des Neoliberalismus, die den westdeutschen Bürgern nach dem Krieg und seinen Zerstörungen das „Wirtschaftswunder“ beschert hat. Auch unter Ronald Reagan in Amerika und unter Margaret Thatcher in Großbritannien hat neoliberale Politik ihre „Wunder“ getan. Aber dann wurde sie aufgegeben, verlassen, entsorgt und bei Ansätzen zur Wiederbelebung als menschenfeindlich gebrandmarkt.
In Wahrheit ist dieser Liberalismus eine Rück- und Neubesinnung auf das Erbe des klassischen Liberalismus vom 18. und 19. Jahrhundert und die Konzeption eines gleichsam geläuterten Liberalismus’. Daher haben ihn jene Wissenschaftler, die ihn in den 1930er Jahren wiederbeleben wollten und entworfen haben, selbst die Bezeichnung Neoliberalismus gegeben. Durchgesetzt hat er sich nach 1945. Er ergänzt den klassischen mit wichtigen Elementen, hat ihn von Irrtümern bereinigt, durch neue Erkenntnisse und Überzeugungen ergänzt, hält aber an dessen Grundlagen fest. Auch lehnt er den Staat nicht ab, im Gegenteil, er hält ihn für nötig, damit dieser die persönliche Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger mittels Rahmengesetzgebung ordnend sicherstellt. Dabei ist die Marktwirtschaft, auch Erhards soziale, nur ein Bestandteil des Neoliberalismus’, aber ein notwendiger.