Der diffamierte Neoliberalismus II

Entstanden als ein Krisenprodukt – Ein neues Buch klärt darüber auf

 Wer über Neoliberalismus redet, sollte wissen, was das ist, bevor er sich mit polit-polemischem Gefasel bei Kundigen lächerlich macht und Unkundige täuscht. Das nötige Wissen kann er sich in dem Buch von Philip Plickert (siehe unten) erwerben. Hier findet er, wann und wie der klassische Liberalismus entstanden ist, wie er mit dem ersten Weltkrieg zuende ging, wie es zwischen den beiden Weltkriegen unter den Liberalen wieder zur Selbstfindung kam, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg der Liberalismus, nun mutiert zum Neoliberalismus, in der Politik seinen Weg bahnte, Durststrecken zu überstehen hatte, wie er in der Auseinandersetzung mit dem Keynesianismus an Zulauf gewann und ihm Durchbrüche gelangen, wie er in Großbritannien mit Margaret Thatcher und in den Vereinigten Staaten mit Ronald Reagan an die „Macht“ kam, wenn auch nur vorübergehend, und daß „eine große historische Umkehr“ nicht gelang.

Plickert möchte mit seinem Buch dazu beitragen, die Debatte um das „meist negativ konnotierte Schlagwort“ vom Neoliberalismus zu versachlichen und die geistes- und zeitgeschichtlichen Ursprünge dieses geläuterten Liberalismus’ erhellen. Das gelingt vorzüglich und geschieht tiefgründig, umfassend, aufschlussreich. Damit wird das Buch zu einem dokumentarischen Werk und zugleich zu einer Darstellung vom Entstehen und Wirken der Mont Pelerin Society, dem „intellektuellem Zentrum der neoliberalen Debatten“.

Mont Pelerin Society heißt die Gesellschaft nach ihrem Gründungsort in einem Hotel rund 250 Meter unterhalb vom Gipfel des Schweizer Berges Mont Pelerin am Ostende des  Genfer Sees. Gegründet hat sie 1947 der Nationalökonom und Sozialphilosoph Friedrich A. von Hayek als  eine Vereinigung bedeutender liberaler Denker, vorwiegend Wirtschaftswissenschaftler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Italien, Dänemark, Norwegen und Schweden. Damals standen die Zeichen, wie Plickert schreibt, in fast allen europäischen Ländern auf Sozialismus und Kollektivismus. Die Liberalen waren eine Minderheit und ohne Einfluß. Daher war es Hayeks Absicht, „ein internationales Netzwerk zu knüpfen, das isolierte freiheitliche Ökonomen, Sozialwissenschaftler und Publizisten durch engere Beziehungen untereinander stärkte und sie im gegenseitigen Austausch die Grundlagen ihrer Philosophie neu entdecken und ausarbeiten ließ“.

Das gelang, und so wurde die Gesellschaft zur Kernzelle des Neoliberalismus. Nach wie vor ist sie auch dessen akademischer Hort, um diese Denk- und Geisteshaltung lebendig zu halten, an ihr das Geschehen in Politik und Wirtschaftspolitik zu messen (und umgekehrt sie and diesem Geschehen), mit ihr zu mahnen und sie immer wieder zu diskutieren. „Mitglieder und Sympathisanten,“ so liest man, „konnten in den nun sechzig Jahren seit ihrer Gründung zum Teil erheblichen Einfluss auf die Politik nehmen, zugleich zeigt diese Studie jedoch auch, wie relativ die Erfolge jeweils waren.“ Ebenso zeigt sie die Höhen und Tiefen, Krisen und Kontroversen, Zerwürfnisse und Querelen, die die Gesellschaft zu durchlaufen hatte, bis sie wurde, was sie ist.

Plickert beschreibt die verschiedenen Schulen des erneuerten Liberalismus, wie sie nach ihren Entstehungsorten benannt werden: die Wiener oder Österreichische, die Londoner, die Chicagoer, die Freiburger Schule. Drei weitere hatten sich in Italien, in der Schweiz und in Frankreich gebildet. Aber die vier erstgenannten gewannen die Dominanz. Der Leser erfährt: Die Wandlung des Liberalismus zum Neoliberalismus zeichnete sich in den 1930er Jahren ab, eine Reaktion auf die damals große Depression. Entstanden ist der Neoliberalismus aus dieser Krise, als ein Krisenprodukt.

Er erfährt weiter: Seine konkrete Geburtstunde war 1938 eine fünftägige Konferenz in Paris. Arrangiert hatte sie der französische Philosoph Louis Rougier für den Europa bereisenden amerikanischen Journalisten Walter Lippmann, dessen Buch The Good Society im gleichen Jahr herausgekommen war. Lippmann hatte das Buch als Streitschrift gegen totalitäre Regime in Italien, Deutschland und Russland gedacht, wandte sich mit ihm aber auch gegen den damaligen New Deal in Amerika und dessen „graduellen Kollektivismus“. Er rief auf zur liberalen Revision. Zu Ehren des Gastes wurde die Konferenz Le Colloque Lippmann genannt.

Die Mehrheit der Konferenzteilnehmer drängte darauf, sich vom klassisch-liberalen Harmonieglauben und von der aus ihm abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlung zur Enthaltsamkeit staatlicher Eingriffe (Laissez faire, laissez passer) zu verabschieden. Lippmanns Appell, eine neue „konstruktive“ Philosophie zu entwickeln, stieß auf breite Zustimmung, und was hier begann, wurde später in und mit der Mont Pelerin Gesellschaft, dem intellektuellen Zentrum der Neoliberalen, voll ausgebildet. Der Neoliberalismus gedieh zum Gegenentwurf der damals dominierenden Lehre des britischen Nationalökonomen J. M. Keynes von der Initialzündung durch den Staat mittels Verschuldung, mit der eine lahmende oder krisengeplagte Wirtschaft wieder anzukurbeln sei.

Die Schwierigkeit, den Leviathan Staat zu zügeln, hat inzwischen, wie Plickert abschließend schreibt, dazu geführt, daß sich die Mont Pelerin Gesellschaft (MPS) wieder dem Laissez faire nähert. Zwei Lager hätten sich gebildet. Im einen stünden Vertreter radikal-libertärer Ideen, die dem Staat und der Politik jede Legitimität für Eingriffe in persönliche Entscheidungen ablehnten und von staatlicher Regulierung nur Schlechtes erwarteten. Die Vertreter des anderen Lagers suchten den Staat wieder in den Bereich der Legitimität zurückzuholen, indem sie Reformen der kollektiven Entscheidungsmechanismen entwürfen. Sie strebten danach, die ordoliberale Utopie durch Präzisierung zu retten.

In einem Ausblick am Ende des Buches konstatiert Plickert: „Gemessen an der liberalen Ordnung, welche die MPS-Gründer in ihrer Jugend noch erlebt hatten, erscheint der gegenwärtige Zustand jedoch durch ein ungeheures Maß an staatlicher Beschränkung und Regulierung geprägt.“ Auch sieht er die Institutionen Privateigentum und Familie, zwei unverzichtbare Säulen für eine freie westliche Gesellschaftsordnung, „heute schwer beschädigt, was zu sozialen Verwerfungen führt, die nun staatlich besoldeten Sozialarbeitern ein weites Betätigungsfeld garantieren“.

Die Erfahrung besagt: Freiheit und liberale Politik haben stets einen schweren Stand gehabt und werden ihn weiter haben. Der Leviathan Staat ist kaum zu bändigen. Politisches Machtstreben, politische Rattenfänger und Populisten, Irrglauben, Missverständnis und bestenfalls Unwissenheit stehen (neo)liberaler Politik massiv entgegen. Die Hoffnung, der Neoliberalismus als einstiges Krisenprodukt könnte wieder eine solche Stellung erringen, um auch aus heutiger Krise herausführen, ist daher sehr, sehr dünn.

Philip Plickert: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zur Entwicklung der „Mont Pelerin Society“. Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2008. 516 Seiten. 59 Euro.

 

 

 

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