Israel, Palästina, Hamas – Für den Völkerrechtsexperten Prof. Dr. Alfred de Zayas muss eine Lösung völkerrechtskonform und für beide Seiten tragfähig sein – Aber die USA, Großbritannien, die EU und Israel verweigern sich einer solchen Lösung offenbar – Der Westen hat als moralische Instanz versagt – Was die Hamas jetzt tat, ist ein Kriegsverbrechen und durch nichts zu rechtfertigen – Aber auch Israel handelt massiv rechtswidrig – Trotz Hamas-Terrorismus: Israels Gegenreaktion muss sich gleichwohl ans Völkerrecht halten – Hunderte Resolutionen sind ohne Folgen geblieben – Gaza ist wie ein riesiges Gefängnis – Palästina noch immer ohne eigenen Staat, und Israel setzt den Landraub fort
Der terroristische Anschlag der palästinensischen Widerstandsorganisation Hamas auf Israel und dessen Zivilbevölkerung am 7. Oktober ist ein zu verurteilendes grausames Verbrechen. Der Rachegegenschlag Israels auf die im Gaza-Streifen zusammengepferchten Palästinenser droht, nichts anderes zu werden, oder er ist es schon. Beides verurteilt der amerikanische Jurist und Historiker Prof. Dr. Alfred Maurice de Zayas als einer der führenden Experten für Menschenrechte und Völkerrecht. Seine Stellungnahme veröffentlicht hat er auf seiner Blog-Seite Human Rights Corner*). Er gibt dort wieder, was er zu dem Konflikt auf Befragen der Schweizer Zeitung „Zeitgeschehen im Fokus“ geäußert hat.**)
Einer beidseitig tragfähigen Lösung verweigern sich USA, Großbritannien, EU und Israel
Für de Zayas gibt es nur dann eine Lösung des jahrzehntelangen Konflikts, wenn sie für beide Seiten tragfähig ist und das Völkerrecht zur Grundlage hat. Man müsse die Uno-Resolutionen über Palästina umsetzen. Dies wollten aber die USA, Großbritannien, die EU und Israel offensichtlich nicht, sonst gingen die Bemühungen in eine andere Richtung. Es sei ein Skandal, dass die USA, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Japan am 16. Oktober 2023 gegen die Resolution des Sicherheitsrates gestimmt hätten, die sonst einen Waffenstillstand beschlossen haben würde.
Wer könnte im Konflikt die Vermittler-Rolle übernehmen?
Als Vermittler im Konflikt würde de Zayas einen Staat aus der Region vorschlagen, etwa Ägypten, Jordanien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Tunesien, vielleicht sogar Algerien. Eventuell könne ein nicht-beteiligter asiatischer Staat wie Indien oder China neue Ideen und Perspektiven einbringen.
Und die Schweiz? Schon lange kein „honest broker“ mehr
Nicht mehr infrage kommt für de Zayas die Schweiz Sie habe durch ihr Verhalten ihre Glaubwürdigkeit als Vermittler verloren und sich weitestgehend mit den Interessen Washingtons und Brüssels identifiziert. Sie sei schon lange nicht mehr ein „honest Broker“. Man habe die Neutralität der Schweiz dem billigen Opportunismus geopfert – schändlich und dumm zugleich.
Der Westen hat als moralische Instanz versagt
Auch Europa und die USA könnten nicht als Vermittler fungieren, denn sie stünden vollkommen auf der israelischen Seite und trügen die Mitverantwortung für die massiven Menschenrechtsverletzungen Israels gegen die Palästinenser. „Der Westen hat als moralische Instanz versagt. Anstatt Israel zur Mäßigung zu bewegen, hat man sein Vorgehen gegen die Palästinenser unterstützt oder schweigend hingenommen.“
Israel verletzt die zwei Hauptnormen des humanitären Völkerrechts
Die Bombardierung des Gaza-Streifens durch Israel als Vergeltung nennt de Zayas menschenverachtend und völkerrechtswidrig. Man könne die kollektive Bestrafung eines Volkes niemals rechtfertigen, auch die Vertreibung einer Million Palästinenser nicht beschönigen. Das humanitäre Völkerrecht bzw. die Haager und Genfer Konventionen legten zwei Hauptnormen fest: the principle of distinction und the principle of proportionality, d. h. das Verbot von Angriffen gegen die Zivilbevölkerung und das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Beide würden von Netanjahu bewusst verletzt. Hinzu komme die Anwendung von verbotenen Waffen wie weißen Phosphor. Es gehe um ein Verbrechen gegen die Menschheit im Sinne des Nürnberger Urteils von 1946 und auch im Sinne des Artikels 7 des Statuts von Rom.
Im Folgenden habe ich Ausschnitte aus den Äußerungen de Zayas‘ im Wortlaut zusammengestellt. Die Zwischenüberschriften sind von mir eingefügt.
Was die Hamas jetzt tat, ist ein Kriegsverbrechen und durch nichts zu rechtfertigen
Grundsätzlich haben wir einen schon lang andauernden, ungelösten Konflikt: den Kampf der Palästinenser für ihre Selbstbestimmung und für ihre Befreiung von unmenschlichen Lebensbedingungen und Unterdrückung. Dieser Konflikt währt schon mehr als ein halbes Jahrhundert. Die Palästinenser – und das ist unabhängig von der Hamas – wollen einen eigenen Staat in garantierten Grenzen. Wäre die Hamas nur gegen das israelische Militär vorgegangen, könnte man das als Kampf gegen Unterdrückung legitimieren. Das wäre im Einklang mit der Uno-Charta. Aber das gezielte Töten von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen, ein terroristischer Akt, und durch nichts zu rechtfertigen, auch dann nicht, wenn die Gegenseite ebenso handeln würde.
Nicht eingehaltene Vereinbarungen (wie von Oslo, Minsk) führen unweigerlich zu Gewalt
Dass es in einem Krieg immer auch Unschuldige trifft, ist kaum zu verhindern. Deshalb ist ein Krieg im Grunde genommen nicht zu führen, und Konflikte muss man immer mit friedlichen Mitteln lösen. Wenn aber klar ist, dass mehrere Hunderte oder gar Tausende von Zivilisten auf beiden Seiten aufgrund der Kriegsführung zu Tode kommen, ist das ebenfalls scharf zu verurteilen. Die Hauptaufgabe der Uno ist es, eben solche Konflikte zu vermeiden und dafür zu sorgen, dass feste Vereinbarungen wie zum Beispiel die Osloer Abkommen eingehalten werden. Das Nichteinhalten von Vereinbarungen wie diejenigen von Oslo I und II oder Minsk führt unweigerlich zu Gewalt.
Israels Völkerrechtsverletzungen gegenüber den Palästinensern
In etlichen Resolutionen des Sicherheitsrats, der Generalversammlung und des Menschenrechtsrats ist das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser bestätigt worden. Auch ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 9. Juli 2004, das die Völkerrechtsverletzungen des israelischen Staats gegenüber den Palästinensern dokumentiert und das Selbstbestimmungsrecht bekräftigt, ist von Israel in keinem einzigen Punkt umgesetzt worden. Die Rechte der Palästinenser stehen nur auf dem Papier, denn die Palästinenser sind sehr weit von einem eigenen Staat entfernt, sehr weit von der Realisierung ihres Selbstbestimmungsrechtes.
Hunderte Resolutionen sind ohne Folgen geblieben
Hier geht es um ein totales Versagen der Welt bzw. der Uno, präventive Maßnahmen im Sinne der Uno-Charta rechtzeitig zu ergreifen. Resolutionen, die nicht eingehalten werden, zerstören die Hoffnung der Menschen und die Glaubwürdigkeit der Organisation. Hunderte Resolutionen sind ohne Folgen geblieben. Zum Beispiel verabschiedete die Uno-Generalversammlung etliche Resolutionen wie 194 (III), 67/19, 75/22, 76/10, 77/25 über die friedliche Lösung der palästinensischen Probleme, die für jeden Staat Gültigkeit haben, die aber nicht verwirklicht wurden. Für eine friedliche Weltordnung bräuchte man auch die Umsetzung der Resolution 2625, die besagt:
Das Recht zum Widerstand und das Recht auf Unterstützung dafür
‚Jeder Staat hat die Pflicht, jede Gewaltmaßnahme zu unterlassen, welche die Völker […] ihres Rechts auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit beraubt. Bei ihren Maßnahmen und ihrem Widerstand gegen solche Gewaltmaßnahmen im Bemühen um die Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts sind diese Völker berechtigt, im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der Charta Unterstützung zu suchen und zu erhalten.‘
…….
Trotz Hamas-Terrorismus: Israels Gegenreaktion muss sich gleichwohl ans Völkerrecht halten
Mit anderen Worten, es gibt ein von der Uno anerkanntes Recht auf Widerstand, ein Recht, für die Realisierung des Selbstbestimmungsrechtes zu kämpfen. Leider geht es hier um Tausende von unschuldigen Opfern, die auf beiden Seiten nicht hätten leiden oder sterben müssen. Wenn man das Agieren wie im Falle der Hamas als Terrorismus verurteilt, muss man sich bei der Gegenreaktion dennoch an die Regeln des Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts halten, andernfalls gibt es Kriegsverbrechen auf beiden Seiten.
Spitäler bombardieren verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht
Das Bombardieren von Spitälern, wie es bei den massiven Luftangriffen der israelischen Luftwaffe auf Gaza in Kauf genommen wird, ist gegen das humanitäre Völkerrecht. Die Zahl der medizinischen Einrichtungen, die hier betroffen sind, ist enorm: Tlaleng Mofokeng, die Uno-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Gesundheit, sprach von 48 Einrichtungen, die in Gaza durch Bomben oder Raketen getroffen wurden.
Ist es nicht Staatsterrorismus, wenn Israel Krankenhäuser und Zivilbevölkerung bombardiert?
Wenn man das Verhalten der Hamas als Terrorismus bezeichnet, wie soll man das Bombardieren der Zivilbevölkerung und medizinischer Einrichtungen in Gaza bezeichnen? Haben wir es nicht mit Staatsterrorismus zu tun, mit kollektiver Bestrafung jenseits von jedem rechtsstaatlichen Gefühl, jenseits von Barmherzigkeit und Menschlichkeit? Alle Uno-Stellen haben gegen den Angriff auf das Al-Ahli Hospital scharf protestiert. Schrecklich, aber auch nicht das erste Mal. So war es auch während früherer Kriege gegen Gaza, etwa 2014. Man muss einen modus vivendi suchen – in gutem Glauben und mit der Solidarität aller Staaten der Welt. Es braucht eine tragfähige Lösung für Israelis und Palästinenser. Man verschiebt diese seit Jahrzehnten.
………
Nach der Rabin-Ermordung hat jede Israel-Regierung jede Annäherungsmöglichkeit torpediert
Wenn die Resolutionen des Sicherheitsrates wie die Resolution 242 vom 22. November 1967 und die Hunderte von Resolutionen der Generalversammlung und des Menschenrechtsrates respektiert worden wären, hätten wir diese Tragödie nicht. US-Präsident Jimmy Carter hat einen Anfang der Annäherung zwischen Israel und Palästina versucht. Präsident Bill Clinton hat auch die Oslo Agreements vermittelt. Die Umsetzung des Friedensprogramms von Oslo hätte die Situation zumindest stabilisieren können. Aber ein radikaler israelischer Nationalist hat den israelischen Ministerpräsident Jitzhak Rabin ermordet, und jede israelische Regierung nach Rabin – ob Ariel Sharon, Benjamin Netanjahu oder Naftali Bennett – hat jede Möglichkeit der Annäherung torpediert. Und dies mit der Zustimmung Washingtons und unter Duldung der Europäischen Union.
Gaza ist wie ein riesiges Gefängnis
Israel hat seit 2007 eine gegen das Völkerrecht verstoßende und daher illegale Blockade gegen Gaza verhängt. Dies hat die Wirtschaft der Palästinenser lahmgelegt, verursachte eine humanitäre Krise, die die Welt aber nicht zur Kenntnis nehmen will. Gaza ist wie ein riesiges Gefängnis, in dem die Menschen an Hunger und medizinischer Unterversorgung leiden oder gar sterben.
Noch immer ohne eigenen Staat, und Israel setzt den Landraub fort
Warum haben die Palästinenser keinen Staat? Weil die Welt es toleriert hat, dass Israel das Territorium auf Kosten der Palästinenser immer weiter ausdehnte. Es genügt, die Karte Palästinas und Gazas anzusehen – 1947, 1967, 2023. Nachdem die Uno-Generalversammlung 1947 eine Teilung des Gebiets festgelegt hatte und der israelische Staat gegründet wurde, kam es zu einer weiteren Ausdehnung des Territoriums, die erst 1967 mit der Uno-Sicherheitsrats Resolution 242 gestoppt wurde. Aber Israel hat sich nicht daran gehalten, und 56 Jahre später ist Palästina noch immer durch Israel besetzt, und der Landraub wird fortgesetzt.
Mit dem jetzigen Territorium ist Palästina wirtschaftlich nicht lebensfähig
Es gibt vier Kategorien, für einen Staat als solcher zu funktionieren und anerkannt zu werden. Die Konvention von Montevideo vom 26. Dezember 1933 nennt sie: Bevölkerung, Regierung, Territorium und die Fähigkeit, in Beziehung zu anderen Staaten zu treten. Alles ist vorhanden – außer Territorium. Es wird keinen palästinensischen Staat geben, es sei denn, Israel gibt das besetzte Land zurück. Man hat das Motto „Land for Peace“ oft bemüht, aber Israel scheint kein Interesse zu haben, Land an die Palästinenser zurückzugeben. Die USA genehmigen die laufende Enteignung von Land, und die Europäer klopfen hypokritische Parolen. Mit dem jetzigen Territorium ist Palästina wirtschaftlich nicht lebensfähig.
__________________________________
*) Alfred de Zayas: „Dieser Blog widmet sich juristischen, historischen und menschenrechtlichen Fragen, in denen Themen von allgemeinem Interesse frei und spontan angesprochen werden. Ziel ist es, einen informellen Meinungsaustausch im demokratischen Geist der Meinungsfreiheit und der Achtung der Meinungen anderer zu fördern, um zu verstehen, statt zu verurteilen, um konstruktive Lösungen vorzuschlagen, anstatt sich zu profilieren. Die Perspektive ist sowohl von innen als auch von außen, und der Mehrwert liegt mehr in den Fragen als in den Antworten.“ Den Blog finden Sie hier.
Prof. Dr. iur. et phil. Alfred Maurice de Zayas (Jahrgang 1947) war vom 1. Mai 2012 bis zum 30. April 2018 der erste unabhängige Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung, auch bekannt als Sonderberichterstatter. Ernannt hat ihn der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UN). Mehr über de Zayas hier.
**) In der Zeitung Zeitgeschehen im Fokus ist de Zayas‘ Stellungnahme hier erschienen. Ihn dort befragt hat Thomas Kaiser.
Ich sehe eine Entwicklung seit 1871, die vom Vereinigten Königreich ausging, das von Hintergrundeliten beeinflusst wurde, einen Keil zwischen Deutschland und Russland zu treiben. Nachdem Deutschland zwei ungewollte ihm aufgezwungene Kriege trotzdem gewonnen hatte, wurden die unbeteiligten Vereinigten Staaten von Amerika ins Boot geholt, um das Kriegsgeschäft maximal auszuschlachten.
Gewisse US-Eliten betrachten Politik und NATO, EU, BRD und Ukraine als Geschäft, das über Leichen geht. Als Feindbild dient ihnen Russland, das keinerlei Interesse an Kriegen hat. Da US-Militär seit 1945 nur noch verliert, haben sie niemanden mehr, der ihnen zu Hilfe eilt. DZiG.de/Russland
Eine Politik, die solche Zusammenhänge verschweigt, scheitert an den offensichtlichen Wahrheiten, die durch die Handlungen von Menschen offenbar werden. Die Widerstände gegen Kriege wachsen inzwischen auch bei Staatsregierungen. Immer mehr lernen, dieser Ebene von Auseinandersetzung zu widerstehen. Inzwischen stehen Pentagon und Washington D.C. in der Weltgemeinschaft isoliert da, weil immer mehr US-Bürger die Zusammenhänge erkennen.
Das sind Entwicklungen, die über trügerische Hoffnungen allein hinausgehen. Wer genau beobachtet, erkennt auch die gesteuerte Opposition in der Politik, die mit einem Sofortprogramm auf Dummenfang geht, und die Falschmeldungen in den freien Medien. Es ist schwierig, sich der Gedankenkontrolle zu entziehen und selber zu denken. Man sollte es trotzdem tun, auch wenn der Gruppenzwang im zwischenmenschlichen Bereich extrem stark ist.
Die Anastasia-Bücher enthalten ein tiefschürfendes Verständnis für die globale Situation. Ich habe sie in 2022 komplett durchgelesen und schätze sehr den Anastasia-Index als Hilfe zum gezielten Zugriff auf konkrete Themen.