Ein Lehrstück politischer Verlogenheit

Die USA und der China-Taiwan-Konflikt – Amerikas zweierlei Maß für zwei Sezessionen – Für die Mächtigen zählen statt Völkerrecht die eigenen politischen Interessen – Die militärische USA-Präsenz in der Taiwan-Region erinnert an Amerikas Provozieren von Japan 1941 – China geht gegenüber Taiwan so ruppig vor, wie es das von England und USA gelernt hat

Von Dr. iur. Menno Aden*)

Der Taiwan-Konflikt nimmt immer bedrohlichere Züge an. Die Beteiligung der USA daran lässt erneut die Frage aufkommen, welche Rolle dieser Staat, der seit seiner Gründung 1776 praktisch keinen Tag erlebt hat, ohne irgendwo kriegerisch aufzutreten, in der Ukraine-Frage spielt, und insbesondere die Frage, wie der Ukraine-Krieg mit dem Taiwan-Konflikt zusammenhängt. Man denkt doch an das Jahr 1941. Ich stelle einige Überlegungen zur Diskussion und bitte um Kritik.

In diesen Tagen eskaliert ein Konflikt zwischen den USA und China. Es geht um Taiwan. In der Straße von Taiwan, also der Meeresstraße zwischen dem chinesischen/asiatischen Festland und der Insel, die früher bei uns Formosa genannt wurde, kam es am 3. Juni zwischen einem amerikanischen und einem chinesischen Militärschiff  fast zu einem Zusammenstoß, als sich der Bug des amerikanischen Schiffes auf etwa 140 Meter einem chinesischen Schiff näherte (FAZ vom 5. Juni 2023).  Der chinesische Verteidigungsminister äußerte sich empört und stellte den Amerikanern die Frage: Was habt ihr Amerikaner hier überhaupt zu suchen?

Aggressiv ist für die beflissene deutsche Presse besonders China

Da die beflissene deutsche Presse, welche die meisten Informationen über internationale Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen offenbar aus amerikanischen Quellen bezieht, ehe sie mundgerecht an uns weitergereicht werden,  stellt diese Frage nicht, und findet, dass die Chinesen wieder mal besonders aggressiv sind. Das ist schon möglich.  Dennoch ist die Frage sehr berechtigt:

  • Was haben die Amerikaner in einer so aufgeheizten Lage eigentlich mit ihren Kriegsschiffen in der Taiwan-Straße herumzufahren?
  • Was haben die Amerikaner überhaupt in der Region zu suchen?

1. Diese Frage führt zu einer Interessanten völkerrechtlichen Frage, die eigentlich ein Lehrstück für politische Verlogenheit Ein kurzer Blick zurück:

Japan griff sich das chinesische Taiwan, die USA eigneten sich Hawaii an

Die Insel war ursprünglich wohl nicht von Chinesen besiedelt wie ja auch Hawaii ursprünglich nicht von Amerikanern besiedelt war – in beiden Fällen ist die indigene Bevölkerung, bevor sie für oder gegen den Eroberer optieren konnte, irgendwie verschwunden.  Japan hat Taiwan 1894/95 von China erobert (Vertrag von Schimonoseki) –übrigens fast in demselben Jahr, in welchem sich die USA Hawaii angeeignet haben.

Amerikas zweierlei Maß für zwei Sezessionen

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Taiwan wieder chinesisch. Als die (antikommunistische) Kuomintag-Regierung in ihrer Flucht vor den Mao-Kommunisten auf Taiwan übersetzte, war das also ein innerchinesischer Vorgang, kein Völkerrechtsbruch.  Nach dem Recht Chinas, nun unter der Führung der kommunistischen Partei, war aber die Aufrechterhaltung der Kuomintang-Regierung auf Taiwan ein hochverräterische Akt. Es ist daran zu erinnern, dass die versuchte Sezession der Südstaaten den Präsidenten Lincoln veranlasste, den Amerikanischen Bürgerkrieg anzuzetteln, der einer der bis dahin größten und blutigsten Kriege überhaupt war. Wenn ein Staat Verständnis dafür haben sollte, dass sich Provinzen nicht abtrennen dürfen, dann die USA! Aber die Sezession von Taiwan diente imperialen amerikanischen Interessen, und dann gelten eben andere Regeln. Dieser Hochverrat der Kuomintang gelang nur mit Hilfe der USA. Die Bevölkerung Taiwans war nicht gefragt worden. Freie Wahlen gab es auf Taiwan erst 1992.

Taiwans Lage völkerrechtlich: als eigener Staat nicht anerkannt

2. Auf deutsche Verhältnisse übertragen ergab sich also eine Lage, wie wenn die so genannten Reichsbürger – sagen wir – auf Rügen das   Deutsche Reich ausriefen.**)  Ein solches „Deutsches Reich“ würde zweifellos von keinem Völkerrechtssubjekt anerkannt werden, wie auch Bruno Topff für seine Republik Alsen  keine Anerkennung fand. In derselben Situation befindet sich Taiwan. Es ist zwar eines der wirtschaftlich erfolgreichsten politischen Gebilde der Welt, geradezu eine chinesische Vorzeigeprovinz, Taiwan wird aber von keinem ernsthaften Staat der Welt anerkannt – von den USA nicht und von keinem europäischen Staat. Wenn sich aber eine von einem Staat abgetrennte Provinz für selbstständig und unabhängig erklärt, diese Erklärung aber von niemandem anerkannt wird, dann bleibt völkerrechtlich nur die Folgerung:

  • Die abtrünnige Provinz ist weiterhin Teil des Staates, der sie als seine Provinz reklamiert.
  • Wenn ein anderer Staat, hier: USA und ihre Vasallen wie Deutschland, diese Provinz in ihrer Abtrünnigkeit unterstützt, dann ist das ein unfreundlicher Akt der USA und Deutschlands gegenüber China.

Für die Mächtigen zählen statt Völkerrecht die eigenen politischen Interessen

Soweit die völkerrechtliche Theorie. Das Völkerrecht ist aber insofern ein problematisches Rechtsgebilde, als es in den entscheidenden Fragen wie  hier der Souveränität und Unabhängigkeit von Staaten oder  abtrünnigen Provinzen (man denke an Kurdistan in der Türkei, an Ossetien im Kaukasus usw.) keine allgemein anerkannten Regeln vorgibt. Die Mächtigen handeln nach ihren politischen Interessen. Das gilt insbesondere für die USA, welche sich seit jeher über das Völkerrecht hinwegzusetzen pflegen bzw. dieses nur insoweit anerkennen, als es ihren eigenen Interessen entspricht. Offensichtlich sehen die USA ihr Interesse darin, sich die halbsouveräne Entität Taiwan als strategischen Stützpunkt im Indo-Pazifik zu erhalten. Dafür sind sie offenbar bereit, auch einen militärischen Schlagabtausch mit China einzugehen – allerdings soll es, wie bisher bei allen amerikanischen Kriegen, die Amerika geführt hat, so aussehen, dass der erste Schlag von der Gegenseite kommt.

Die militärische USA-Präsenz in der Taiwan-Region erinnert an Amerikas Provozieren von Japan 1941

Die amerikanische militärische Präsenz in der Region erinnert leider sehr an die Lage von 1941. Jedenfalls ist es heute wohl weltweit akzeptiert, dass Roosevelt Japan zielbewusst so in den Würgegriff nahm, dass diesem nur die Alternative zwischen völliger Erniedrigung und einem Angriff auf die USA blieb. Ein amerikanischer Autor schreibt: Die gegenüber Japan verfolgte Politik von Roosevelt bestand darin, Japan zu einem offenen kriegerischen Akt zu provozieren (zitiert bei Aden, Imperium Americanum, S. 184 m. N.).

Wenn China mit Russland auf die Idee käme, den USA Alaska streitig zu machen

In dem amerikanischen Bundesstaat Alaska gibt es eine Unabhängigkeitsbewegung. Niemand nimmt die wirklich ernst, sie scheint aber immerhin ein gewisses politisches Gewicht zu haben. Die chinesische Staatsführung könnte nun auf die Idee kommen,  zusammen mit Russland, welches den Verkauf von Alaska an die USA seit langem bitter bereut, diesem riesigen Gebiet  denselben halbsouveränen Status zuzusprechen, wie die USA ihn der chinesischen Provinz Taiwan zuspricht.  Was dann?  Wütende Aufschreie über chinesische Provokation – und wir Deutschen wären vermutlich wieder die lautesten.

Ergebnis: China geht gegenüber Taiwan so ruppig vor, wie es das von England und USA gelernt hat

Das Taiwan-Problem ist Folge einer politischen Lüge und Unwahrhaftigkeit der – man muss es wohl so sagen – USA. Würden sich die USA an das Völkerrecht halten, wäre das ein gutes Beispiel – insbesondere auch für China. Die Selbstgerechtigkeit und Nonchalance, mit der England und USA im 19. Jahrhundert und noch bis in die 1990er Jahre in Ostasien ihre Einflusszonen abgesteckt haben, rächt sich nun. China geht nun genauso ruppig vor, wie es das von den anglo-amerikanischen Imperialisten gelernt hat.  Kann man es den Chinesen übelnehmen?

Wieder einmal kläglich: die Rolle Deutschlands

Die Rolle Deutschlands ist in diesem Spiel wieder einmal kläglich. Wir sind der wichtigste Handelspartner Chinas. Und wir  sind so bescheuert, blöd, naiv – es fehlen die Worte – uns von den USA in eine  antichinesische Haltung pressen zu lassen, die unsre Wirtschaft und auch unsere kulturelle Beziehungen mit diesem alten Kulturvolk massiv schädigen wird, und unsere amerikanischen Freunde reiben sich die Hände.

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*) Geschrieben am 6. Juni 2023, dem 79. Jahrestag der amerikanischen Invasion in Nordfrankreich 1944. Dieser Beitrag ist zuerst auf der Web-Seite des Autors (hier) erschienen.

Prof. Dr. Dr. iur. Menno Aden (Jahrgang 1942, Abitur 1962) hat Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn studiert (1963 bis 1967), wurde 1972 in Bonn promoviert, war in den Jahren 1971/72 Senior Research Officer am Institut für Rechtsvergleichung der Universität von Südafrika, war beruflich tätig in der Energie- und Kreditwirtschaft und von 1994 bis 1996  Präsident des evangelisch-lutherischen Landeskirchenamtes in Schwerin, dann bis 2007 Professor an der FH für Ökonomie und Management in Essen. Verheiratet, fünf Kinder. Er hat neben seiner Lehrtätigkeit zahlreiche Schriften im Bereich Bank-, Wirtschafts- und internationales Recht verfasst, auch theologische Schriften und Bücher zu anderen Themen. Weiteres über Aden siehe hier.

**) Nach dem 1. Weltkrieg gab es verschiedene solcher „Staatsgründungen“, z.B. auf der bis 1919 deutschen Insel Alsen durch den 32jährigen Bruno Topff.

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