Kreative Statistik und der Verbraucherpreis-Index – Die Rekord-Inflation ist keine mehr, weil jetzt 2020 als neues Basisjahr gewählt wurde anstelle von bisher 2015 – Möglichkeiten der „Optimierung“ gibt es viele – Sie zu nutzen, muss nicht Vortäuschungsabsicht sein, aber es kann
Wir kennen die gern kolportierte Lebensweisheit „Ich traue keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe.“ Zugeschrieben wird sie Winston Churchill. Jüngst las ich sie in freundlich abgewandelter Form1): „Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst optimiert hast.“ Eine Statistik „optimieren“ zu wollen, kann zweierlei bedeuten: erstens die Absicht zu reiner Tatsachendarstellung oder zweitens die Absicht zum Verbiegen von Tatsachen. Diese zweierlei Bedeutung gilt auch für das statistische Produkt, das Teuerungsrate und/oder Inflationsrate heißt, amtlich aber Verbraucherpreis-Index genannt wird. Im ersten Fall würde das Statistische Bundesamt die Rate mit besten Wissen und Gewissen und dem ehrlichen Willen nach rein sachlichen Kriterien berechnen, im zweiten Fall mit dem verkappten unehrlichen Willen, sie aus politischer Gefälligkeit zu beschönigen.
Natürlich darf das Bundesamt eine absichtliche Beschönigung nicht eingestehen. Aber die Verdächtigung wird es nicht los, denn die Berechnung ist komplex und schwierig. Sie macht Abwägungen notwendig, ermöglicht damit aber auch Manipulationen, die sich teils sogar als vertretbar hinstellen lassen. Kritische Bürger werden abgespeist mit der rabulistisch-feinsinnigen Worterfindung „gefühlte Inflation“; die sei gemäß der menschlichen Natur höher als die amtliche. Die von statistischen Fachleuten berechnete dagegen sei kein Gefühlsprodukt, sondern das Ergebnis von Sachverstand.
Zweifel daran kommen gerade abermals hoch. Denn wie das Statistische Bundesamt den Verbraucherpreisindex2) berechnet, hat es revidiert und ihn umgestellt auf ein neues Basisjahr. Und siehe da: Die Rekordinflation von über 10 Prozent vom vergangenen Jahr 2022 ist plötzlich im Nirwana verschwunden. Leider nur statistisch.
Erstmals bemerkbar macht sich das neue Basisjahr 2020 (anstelle von 2015) jetzt 2023 in der Verbraucherpreis-Statistik für den Januar. Mit dieser Umstellung werden auch die Indexwerte der bis 2015 zurückliegenden Jahre korrigiert. Nach dem alten Basisjahr hatte die Statistik für die Verbraucherpreise als Jahresrate im September, Oktober und November 2022 noch einen seit 1949 erstmaligen Rekordanstieg von 10 und 10,4 Prozent ausgewiesen. Nach dem neuen Basisjahr sind es nur noch 8,6 und 8,8 Prozent, und ein erstmaliger Rekord ist das auch nicht mehr. Ebenfalls deutlich niedriger ist die Preissteigerungsrate in allen übrigen neun Monaten von 2022. Und im Jahresdurchschnitt 2022 korrigierte das Bundesamt die Rate von 7,9 auf 6,9 Prozent. Teils ebenfalls niedriger, aber teils höher sind die Steigerungsraten nach der Umgewichtung für das Jahr 2021. Aber im Jahresdurchschnitt 2021 beträgt sie mit altem und neuem Basisjahr unverändert 3,1 Prozent. Immerhin.
„Optimieren“ muss nicht Vortäuschungsabsicht sein, aber es kann
Optimierungsmöglichkeiten für den Preisindex (in benannter beiderlei Absicht) gibt es viele. So lassen sich Güter mit relativ starker Preissteigerung im Warenkorb einfach austauschen gegen ähnliche Güter mit relativ niedrigem Preisanstieg. Oder Produktgruppen mit unterschiedlichen Preisveränderungen werden im Warenkorb anders gewichtet: Teurer gewordene erhalten ein höheres Gewicht, billiger gewordene ein niedrigeres. Frisiert wird also die Verbrauchsgewohnheit. Oder man nutzt zum Optimieren die Erscheinung, dass Produkte qualitativ verbessert wurden, aber preislich unverändert geblieben sind, so dass man sie in den Index als indirekte Preissenkung eingehen lassen kann. Oder Preiserhöhungen werden gänzlich ignoriert, indem man annimmt, sie seien nur von kurzer Dauer und daher bloß vorübergehend. Eine solche Annahme mag zutreffen oder auch nicht. Beides erweist sich erst später. Doch lässt ein solches „Optimieren“ das Drehen am Indexwert nach Willkür und Beliebigkeit zu. Oder man holt Produkte in den Korb, die wegen absehbaren technischen Fortschritts dazu tendieren, nicht teurer, sondern billiger zu werden. Wie gesagt, das eine oder andere Optimieren muss nicht Vortäuschungsabsicht sein, aber es kann. Und sachlich zwingende Änderungen gibt es ebenfalls. Entsprechend schwer oder gar unmöglich ist ein Täuschungsnachweis.
Was kommt in den statistischen Warenkorb hinein und in welcher Gewichtung
Die Berechnung des Verbraucherpreis-Indexes zu revidieren, ist üblich. Ob notwendig und richtig, lässt sich bezweifeln. Umgestellt auf ein neues Basisjahr wird sie alle fünf Jahre. Das bisherige Basisjahr war 2015, das neue ist 2020. Über die Begründungen dafür lässt sich streiten. Grundlage für die Berechnung ist ein Warenkorb. Aber was kommt in den statistischen Warenkorb hinein und in welcher Gewichtung und für welche Verbrauchergruppen? Die Auswahl entscheidet über das Ergebnis. Grundlage für die ausgewählten Güter (Waren und Dienstleistungen), die in den Warenkorb zur Preiserhebung einbezogen werden, ist ein durchschnittliches Verbrauchsverhalten, das als repräsentativ dargestellt wird. Haben sich die Verbrauchsgewohnheiten geändert, packt man den Warenkorb um. Alte Güter fliegen raus, neue kommen rein, für Drinbleibende ändert sich das statistische Gewicht. Aber ändern sich die Verbrauchsgewohnheiten alle fünf Jahre wirklich? Wohl kaum, doch im längeren Zeitraum durchaus, so dass eine Anpassung zumindest vertretbar, wenn nicht sogar notwendig ist. Das erschwert es, den Statistikern absichtliche Manipulation vorzuwerfen, wenn ihre Erklärungen vertretbar erscheinen oder zumindest nicht abwegig sind.
Wo ist die Rekordinflation von 2022 geblieben? Verschwunden in der geänderten Gewichtung
Jetzt also das neue Basisjahr 2020. Wo ist die Rekordinflation von 2022 geblieben? Der Verdacht liegt zunächst nahe, dass die amtlichen Statistiker sie in mehr oder minder freiwilligem politischem Gehorsam mit Methoden wie den geschilderten weggezaubert haben. Die Statistiker weisen solchen Verdacht weit von sich. Auch darum mag das Statistische Bundesamt die Journalisten der Medien zum 22. Februar zu einem Hintergrundgespräch eingeladen haben. Wie es in der Pressemitteilung Nr. 69 vom gleichen Tag (hier) schreibt, dient es dazu, „ausführlich zu den methodischen Weiterentwicklungen und zu den Ergebnissen der Revision“ zu informieren.3) Den zentralen Grund für die starke Korrektur der Preissteigerungsrate gibt das Bundesamt mit verschiedenen Änderungen der Gewichtung im Warenkorb an. Vor allem verweist es auf die 2022 stark gestiegen Preise für Energie. Sie seien in die neuen Steigerungsraten weniger stark eingeflossen als in die alten und hätten daher zu weniger hohen geführt.
Die Berufung auf die Besonderheiten des Jahres 2020
Das hänge unter anderem mit Besonderheiten des Jahres 2020 zusammen, das jetzt eigentlich – nach den vorgegebenen Regeln der Statistiker – das neue Basisjahr für den Verbraucherpreisindex hätte sein sollen. 2020 sei stark von Corona und Lockdowns geprägt gewesen. Die Menschen hätten weniger Treibstoffe verbraucht, und der Ölpreis habe wegen der Pandemie darnieder gelegen. Daher sei der Anteil der Energie an den Budgets der privaten Haushalte niedriger ausgefallen als sonst. Wenn das Amt jetzt verfahren wäre, wie es die Regeln eigentlich vorsähen, und die Aufteilung der Budgets von 2020 als Maßstab für die Inflation von 2022 genutzt hätte, wären die neuen Inflationsraten sogar noch niedriger ausgefallen. Als Kompromiss habe man für die statistische Basis einen Durchschnitt aus den Jahren 2019, 2020 und 2021 gewählt, um das Außergewöhnliche von 2020 etwas zu relativieren. Zudem habe man für die Aufteilung des Warenkorbs stärker auf die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zugegriffen, nicht nur auf Befragungen.4)
Die Beschönigungs-Interessen der politischen Führung
Eine Erläuterung wie diese ist ebenfalls außergewöhnlich, macht keinen vertrauensweckenden Eindruck und riecht stark nach „Optimierung“ der zweiten Art. Man muss dabei auch immer als Tatsache im Hinterkopf haben, dass regierende Politiker und Parteien stets daran interessiert sind, die Preissteigerungsrate niedrig aussehen zu lassen, um ein flächendeckendes Verlangen nach Lohn- und Gehaltserhöhungen nicht zusätzlich zu befördern. Auch haben sie bei hoher Staatsverschuldung ein Interesse an niedrigen Leitzinsen der Zentralbank. Bei hoher Preissteigerungsrate nämlich müsste die Zentralbank mit Leitzinserhöhung gegensteuern und der Staat seine Staatsanleihen höher verzinsen. Außerdem sind die Anleihen bei hoher Inflation weniger gefragt, wenn deren Realverzinsung zu niedrig oder gar negativ ausfällt.
Die staatlichen Entlastungspakete und was ihre Indexwirksamkeit bedeutet
Weil die privaten Haushalte durch massive Preissteigerungen stark gebeutelt sind, sind seit dem Frühjahr 2022 drei umfangreiche staatliche Entlastungspakete beschlossen worden. Welche Maßnahmen das bisher sind und sich auf den Verbraucherpreis-Index auswirken, hat das Statistische Bundesamt hier zusammengestellt und erläutert. Zumindest teilweise sind oder werden sie, wie es auch hier erläutert, „indexwirksam“. Wenn diese Entlastungen zwar den Indexwert mindern, aber der Preisanstieg bestehen bleibt, gibt der so „optimierte“ Verbraucherpreisanstieg nicht den tatsächlichen Anstieg wieder. Die Verbraucher werden zwar entlastet, aber die statistische Wahrheit ist diese Optimierung nicht.
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1) Lübecker Nachrichten vom 26. Februar, Meyers Marktplatz, Seite 24.
2) Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes misst der Verbraucherpreisindex monatlich die durchschnittliche Preisentwicklung aller jener Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte in Deutschland für Konsumzwecke kaufen. Die Veränderung des Verbraucherpreisindex zum Vorjahresmonat bzw. zum Vorjahr wird als Teuerungsrate oder als Inflationsrate bezeichnet.
Beim Berechnen des Verbraucherpreisindex verwendet das Amt einen „Warenkorb“, der rund 700 Güterarten umfasst und sämtliche von privaten Haushalten in Deutschland gekauften Waren und Dienstleistungen repräsentiert. Mit welchen Gewichten diese Güterarten in den Gesamtindex einfließen, ist im „Wägungsschema“ (hier) festgehalten. Der Verbraucherpreisindex dient vor allem dafür, die Geldwertstabilität. zu messen. Aber auch in Verträgen werden Verbraucherpreisindizes oft verwendet, um langfristig laufende Zahlungen wie Mieten oder Unterhaltszahlungen anzupassen. Dafür steht eine kostenfreie Rechtshilfe zur Anpassung von Verträgen (Wertsicherungsrechner) hier zur Verfügung.
3) Erläuterungen zum Harmonisierten Verbraucherpreis-Index (HVPI, hier) und ein Methodenpapier zum HVPI-Wägungsschema für 2023 (hier) sind im Internet-Angebot des Statistischen Bundesamtes verfügbar.
4) Ich stütze mich hierbei auf eine Wiedergabe der Pressekonferenz des Bundesamtes im FAZ-Wirtschaftsteil vom 23. Februar 2023, Seite 17.