Wessen Causa?

Das Urteil des Landesschiedsgerichts im Verfahren AfD-Bundesvorstand gegen das Parteimitglied Doris von Sayn-Wittgenstein – Zwei Anträge, zwei Vorwürfe – Keine Anhaltspunkte für arglistige Täuschung ersichtlich – Eine unzulässige Rückwirkung – Kein Verstoß Sayn-Wittgensteins gegen die Bundessatzung – Keine Wesensverwandtschaft zum Rechtsextremismus oder Nationalsozialismus – Der AfD-Bundesvorstand macht sich die Diskurshoheit der Altparteien zu eigen – Rüge des Gerichts für den Bundesvorstand – Für Sayn-Wittgenstein ein sorgfältig begründeter, klarer Freispruch

Wessen Fall ist das eigentlich? Eine Causa Sayn-Wittgenstein? Eine Causa AfD-Bundesvorstand? Wer ist Opfer? Wer ist Täter? Wer der Gute, wer der Böse? In der öffentlichen Wahrnehmung läuft das Stück unter dem Namen Sayn-Wittgenstein. Dafür sorgen die Medien. Schon der Name ist eine geeignete Zielscheibe und verspricht Aufmerksamkeit. Da gibt es also eine Person, eine Frau, die ihren Mann steht, die mit ihrer konservativen Haltung nicht zurückhält, Meinungen äußert, die die überwiegend politisch links abgedrifteten Mainstream-Medien nicht vertragen und zur Weißglut bringen, folglich diese Person dorthin schieben, wo man sie heutzutage der allgemeinen Ächtung aussetzen kann: in die „rechtsextreme“ Ecke, wo sie sich zu schämen und den Mund zu halten hat. Was immer sie trotzdem sagt und tut, gilt, weil „rechtsextrem“, als verwerflich und unbeachtlich. Wirklicher und sogar gewalttätiger Linksextremismus dagegen wird verharmlost und darf sich in Politik und Medien wohlwollender Duldsamkeit erfreuen.

Die unerwünschten Elemente in der AfD

In dieser Gemengelage und angesichts der fünf mehr oder minder links-grünen populistischen Altparteien möchte die AfD, die – daran sei erinnert – aus der aufgeweckten, kritischen, aber gemäßigten bürgerlichen Mitte heraus entstanden ist, alles vermeiden, um nicht als rechtsextrem diffamiert zu werden. Jedenfalls wollen das große Teile von ihr und der Bundesvorstand. Sie haben vor der Ächtung Angst, weil es Wähler der politischen Mitte verprellen und weil es die Partei sonst schwer haben könnte, zu einem noch größeren politischen Gewicht zu werden. Daher sind Mitglieder der Partei, die zu Recht oder zu Unrecht als rechtsextrem hingestellt werden, für sie unerwünschte Elemente und möglichst aus der Partei zu entfernen.

Sayn-Wittgenstein bleibt Mitglied mit allen Rechten und Pflichten

So erklärt sich auch, dass die Parteiführung dem medialen Niedermachen von Doris von Sayn-Wittgenstein durch die Mainstream-Medien gleichsam wie abgerichtet  folgt, statt das Treiben gegen sie gelassen zu ertragen und darauf zu verweisen, dass es auch in allen anderen Parteien gehörige programmatische und persönliche Differenzen und Auseinandersetzungen mit schwierigen Personen, weil teils auch gestandenen Persönlichkeiten gibt.*) Dann stünde sie besser da als jetzt. Denn nun hat der Bundesvorstand gegenüber Sayn-Wittgenstein abermals eine partei-interne gerichtliche Niederlage erlitten. Das AfD-Landesschiedsgericht hat entschieden, dass Sayn-Wittgenstein weiterhin als Mitglied der Partei mit allen Rechten und Pflichten zu behandeln ist. Wie hat es sein Urteil gegen den Bundesvorstand – was in den Medien durchweg untergegangen ist – begründet? Das Folgende soll es Interessierten ermöglichen, sich ein fundiertes eigenes Urteil zu bilden.

Zeitliche Daten zum Verfahren

Der AfD-Bundesvorstand hatte beim zuständigen Landesschiedsgericht Schleswig-Holstein beantragt, es möge feststellen, dass Sayn-Wittgenstein nicht mehr Parteimitglied sei, und hilfsweise ihren Parteiausschluss begehrt. Ihren Eintrittsantrag in die Partei hatte diese am 6. Februar 2016 gestellt. Begonnen hat ihre Mitgliedschaft am 17. März 2016. Die Rechtsanwältin Sayn-Wittgenstein ist seit der Landtagswahl 2017 Landtagsabgeordnete in Schleswig-Holstein und war am 8. Juli 2017 zur AfD-Landesvorsitzenden gewählt worden. Von diesem Amt ist sie am 19. Dezember 2018 wegen öffentlicher Anfeindungen aus Parteiräson zurückgetreten. Bundesweit bekannt wurde sie, als sie auf dem Bundesparteitag in Hannover am 2. Dezember 2017 unerwartet für den Bundesparteivorsitz neben Jörg Meuthen kandidierte und fast gewählt worden wäre, wenn sie ihre Kandidatur für den zweiten Wahlgang nicht zurückgezogen hätte, um als Kompromiss den zweiten Vorsitz für Alexander Gauland freizumachen. Am 4. Dezember 2018 haben sie ihre vier Fraktionskollegen im Kieler Landtag aus der AfD-Fraktion ausgeschlossen. Seitdem arbeitet sie im Landtag als fraktionsloses AfD-Mitglied. Die Hintergründe dazu habe ich in einem früheren Beitrag hier erläutert. Am 17. Dezember 2018 auf seiner Präsenzsitzung hat der Bundesvorstand (mit einer Enthaltung) beschlossen, dass Sayn-Wittgenstein ihren Status als Parteimitglied und ihre damit verbundenen Rechte und Pflichten verloren hat. Zeugen zum Verfahren hat das Gericht bei dem mündlichen Verhandlungstermin am 17. April 2019 vernommen.

Die zwei Anträge des AfD-Bundesvorstandes

Gescheitert war der Bundesvorstand beim Landesschiedsgericht schon mit seinem Eilantrag auf Sayn-Wittgensteins vorläufigen Parteiausschluss (Eingang beim Gericht am 20. Dezember 2018) schon im Januar 2019. Mit dem Beschluss vom 6. Januar hat das Gericht in Form der einstweiligen Anordnung den Bundesvorstandsentscheid zum vorläufigen Ausschluss aufgehoben (Geschäftszeichen LSG SH 14/18). An der schon damals ausführlichen Begründung hat das Gericht mit seinem Urteil auch im Hauptverfahren festgehalten. Beantragt hat der Bundesvorstand zweierlei: erstens, die Aufnahme Sayn-Wittgensteins als AfD-Mitglied sei zu widerrufen, oder hilfsweise – also wenn das scheitert – zweitens, sie aus der Partei auszuschließen.

Die zwei Vorwürfe des Bundesvorstandes

Der Vorwurf lautet, sie sei Mitglied einer extremen Organisation gewesen, die mit einer AfD-Mitgliedschaft nicht vereinbar sei, und habe sie unterstützt. Darüber habe sie bei ihrer Aufnahme in die Partei arglistig getäuscht. Ihre Aussagen dazu offenbarten eine ideologische Verknüpfung mit der äußersten rechten Szene. Solche extremen Organisationen hat die AfD in einer langen „Unvereinbarkeitsliste“ (hier) aufgezählt. Im vorliegenden Fall  handelt es sich um den Verein Gedächtnisstätte e. V. mit seiner Gedenkstätte im thüringischem Guthmannshausen (hier). Dessen Hauptzweck ist, der zwölf Millionen zivilen deutschen Kriegs- und Nachkriegsopfer des Zweiten Weltkrieges zu gedenken (hier). Seinen Hilfsantrag stützt der Bundesvorstand auf den zweiten Vorwurf, Sayn-Wittgenstein habe sich als Holocaust-Leugnerin zu erkennen gegeben. Sie selbst weist die Vorwürfe als unzutreffend zurück.**)

Keine Anhaltspunkte für arglistige Täuschung ersichtlich

Zum ersten Vorwurf heißt es in dem Urteil, der Bundesvorstand habe schon die Voraussetzungen eines Anfechtungsrechts im Sinn des BGB (Paragraph 123 Absatz 1) nicht schlüssig dargelegt. Nach dieser Bestimmung setze ein Anfechtungsrecht voraus, dass Sayn-Wittgenstein den Bundesvorstand „arglistig“ getäuscht habe. Anhaltspunkte für eine Täuschung durch positives Tun seien aber konkret nicht ersichtlich. Doch hätte der Bundesvorstand für ein Obsiegen zunächst einmal beweisen müssen, dass Sayn-Wittgenstein zumindest zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in die Partei Mitglied in dem Verein „Gedächtnisstätte e. V.“ war. Dies ist ihm nicht gelungen. Schon die Voraussetzungen dafür lägen nicht vor. Die aber seien nach der AfD-Bundessatzung notwendig, damit der Bundesvorstand seine damalige Zustimmung zur Aufnahme Sayn-Wittgensteins in die AfD wirksam widerrufen könne. Auch habe der Bundesvorstand dem Gericht trotz Hinweis weitere Beweisangebote nicht unterbreitet.

Eine unzulässige Rückwirkung

Ohnehin hält es das Gericht für mehr als fraglich, ob die einschlägige Bestimmung aus der Fassung der Bundessatzung vom 1. Juli 2018 hier überhaupt anwendbar ist, „denn mit ihr dürfte eine unzulässige Rückwirkung zulasten der Antragsgegnerin verbunden sein“. Denn die Fassung der Bundessatzung, als Sayn-Wittgenstein in die AfD eintrat, habe eine Eingriffsermächtigung zugunsten des Bundesvorstands nicht vorgesehen, sondern diese Fragen seinerzeit ausschließlich dem jeweiligen Landesvorstand überlassen. Die jüngere Bestimmung, auf die sich der Bundesvorstand berufe,  sei hier schon deswegen nicht anzuwenden, weil sie Sayn-Wittgenstein „seinerzeit nicht hat bekannt sein und sie sich demnach nicht auf sie hat einstellen können“.

Kein Verstoß Sayn-Wittgensteins gegen die Bundessatzung

Mit dem zweiten Vorwurf gegen Sayn-Wittgenstein („Holocaust-Leugnung“) begründet der Bundesvorstand seinen Hilfsantrag, sie aus der Partei auszuschließen. Worauf dieser sich dabei beruft, bezeichnet das Gericht „als rechtlich ungeeignet, einen Parteiausschluss der Antragsgegnerin zu begründen“. Dass der Hilfsantrag „ohne Erfolg bleiben muss“, ergebe sich schon daraus, dass es (wie vom Gericht zum ersten Antrag ausgeführt) an den Voraussetzungen fehle, die Aufnahme Sayn-Wittgensteins in die AfD wirksam widerrufen zu können. Der Bundesvorstand sei auf die von ihm angebotenen Beweisanträge, die Antragsgegnerin habe ihre Mitgliedschaft in dem Verein Gedächtnisstätte e. V. verschwiegen und sei dort mindestens bis zum 28. November 2018 Vereinsmitglied gewesen, mit seinem Vortrag beweisfällig geblieben. Daher sei rechtlich von einem Satzungs- bzw. Ordnungsverstoß gegen die Bundessatzung (im Sinne von Paragraph 7 Absatz 5) nicht auszugehen. Daher bleibe auch der Hilfsantrag ohne Erfolg.

Der Verein Gedächtnisstätte und was Sayn-Wittgenstein 2014 über ihn geschrieben hat

Diesen Antrag gestützt hat der Bundesvorstand darauf, Sayn-Wittgenstein sei seit der Veröffentlichung ihres Internet-Artikels vom 18. Dezember 2014 öffentlich für den Verein Gedächtnisstätte eingetreten und habe für diesen geworben. Diesem Verein wird vorgeworfen, ein Verein von Holocaust-Leugnern zu sein. Sayn-Wittgenstein hatte damals in einem Beitrag für den Internet-Blog „Standpunkt“ über den Verein geschrieben, dieser mache Veranstaltungen, „die den Horizont erweitern, statt den Geist zu manipulieren“. Menschen, welche die „Gedächtnisstätte“ aufsuchten, würden „in den Medien angeprangert, und man versucht, sie geschäftlich zu ruinieren“. Dies „sollte Ansporn sein, sich jetzt erst recht einzubringen! … Für unser ganzes Volk ist die Zeit gekommen, grundsätzlich umzudenken. Fast 70 Jahre Krieg und Entmündigung sind genug.“ Auch rief sie die Leser zu einer aktiven Unterstützung des Vereins und seiner Ziele auf: „Geben Sie der Gedächtnisstätte daher die verdiente Unterstützung, damit von dort weitere Impulse zur Selbstbestimmung des deutschen Volkes ausgehen können und werden Sie Mitglied!“ (FAZ vom 29. November 2018, Seite 4).

Keine Wesensverwandtschaft zum Rechtsextremismus oder Nationalsozialismus

Das Gericht befindet, wenn sich aus öffentlichen Reden oder dem Verhalten eines AfD-Mitgliedes eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus ergebe, dann verstoße es damit erheblich gegen die Grundsätze der Partei. Es macht deutlich: „Eine öffentlich demonstrierte Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus verstößt insbesondere erheblich gegen die Verpflichtung aus § 5 Abs. 1 Satz 1 der Bundessatzung, wonach jedes Mitglied verpflichtet ist, die Zwecke der Partei zu fördern.“ Sonst setze es die Partei der Gefahr aus, vom Verfassungsschutz beobachtet und einem Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht ausgesetzt zu werden. Aber nach den vom Gericht näher dargelegten Maßstäben hat Sayn-Wittgenstein eine Wesensverwandtschaft zum Rechtsextremismus oder Nationalsozialismus seit dem Erscheinen jenes Blog-Beitrags durch ein Eintreten oder Werben für den Verein nicht öffentlich demonstriert.

Unterstützungszahlungen sind kein öffentliches Eintreten und Werben für den Unterstützten

Weitere Unterstützungsleistungen oder anderweitige Werbeaktionen Sayn-Wittgensteins nach dieser Veröffentlichung am 18. Dezember 2014 habe der Bundesvorstand nicht vorgetragen, und diese seien für das Gericht  auch sonst nicht ersichtlich. Daher könnten sie auch nicht herangezogen werden als Maßstab dafür, Sayn-Wittgensteins habe seit ihrem Eintritt in die Partei ein Weltbild, das mit dieser Partei unvereinbar sei. Besonders nicht in Betracht kämen die von ihr zugestandenen Unterstützungszahlungen an den Verein etwa einmal jährlich, „weil es sich bei jährlichen Überweisungen, d.h. grundsätzlich nur zwischen Gläubiger und Schuldner sichtbaren Kontobewegungen in keinem Fall um ein ‚öffentliches’ Eintreten und Werben zugunsten des Vereins handeln könne. Auch habe Sayn-Wittgenstein persönlich anlässlich des Rechtsgesprächs vor dem Gericht erneuert und wiederholt, aus heutiger Sicht würde sie Werbeaufrufe zugunsten des Vereins nicht mehr abgeben, wie sie in ihrem damaligen Blog-Beitrag enthalten seien.

Sayn-Wittgenstein hat sich 2014 geäußert, als sie AfD-Mitglied noch nicht war

Ohnehin ist Sayn-Wittgenstein 2014 Mitglied der AfD noch nicht gewesen, sondern erst 2016. Das Gericht betont, dass die Bundessatzung (Paragraph 7 Absatz 5 ) grundsätzlich voraussetzt, dass der Satzungsverstoß eines Mitglieds während seiner Parteizugehörigkeit geschehen sein müsse. Dies ergebe sich aus der im Präsens gehaltenen Formulierung in dem Absatz 5 („Verstößt ein Mitglied…“). „Mithin können grundsätzlich öffentliche Erklärungen oder Handlungen des Mitglieds nicht mehr herangezogen werden, die zeitlich vor seiner Parteizugehörigkeit stattgefunden haben.“ Aus derart vergangenen Begebenheiten könnten sich allenfalls Indizien auf die politisch-ideologische Grundhaltung des Mitglieds und darauf ergeben, dass es diese bis in die Gegenwart beibehalten habe. Daher sieht das Gericht in der Veröffentlichung jenes Blog-Beitrags keinen Verstoß Sayn-Wittgensteins gegen die Bundessatzung und hat die Begründung des Bundesvorstandes, mit ihrer aus dem Blog-Beitrag hervorgehenden politischen Vorgeschichte sei Sayn-Wittgenstein für die AfD nicht tragbar, abgelehnt.

Sayn-Wittgenstein meinte die Vertriebenen, nicht die Gedächtnisstätte-Vereinsmitglieder

Das Gericht geht auf den inkriminierten Beitrag von 2014 auch inhaltlich ein und zitiert dessen Beginn: „Mit großem privatem Aufwand aus unseren Reihen ist in den letzten Jahren eine würdige Gedächtnisstätte in Gutmannshausen/Thüringen entstanden, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, unserer Vergangenheit und der damit zusammenhängenden Opfer würdig zu gedenken.“ Mit der Formulierung „wir“ habe Sayn-Wittgenstein (anders als der Bundesvorstand) nicht die Mitglieder des Vereins gemeint, sondern es könnten nur die Reihen der Vertriebenen gemeint gewesen sein, zu denen die Antragsgegnerin nach ihrer familiären Abstammung gehöre. Sie habe lediglich Bezug auf die Entstehung einer würdigen Gedächtnisstätte als solcher genommen, nicht hingegen auf den Verein oder dessen verantwortliche Protagonisten.

Was in CDU und CSU vor zehn, zwanzig Jahren noch geteilt worden ist

Aus Sayn-Wittgensteins Formulierung Auch für die unter polnischer bzw. russischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete sind die Steine als Mahnung und zur Erinnerung an dieses Vermächtnis aufgestellt vermag die Kammer ebenfalls kein Indiz auf ein rechtsextremistisches oder nationalsozialistisches Gedankengut abzuleiten, dem  Sayn-Wittgenstein noch heute verhaftet sei. Hierzu weist das Gericht auf dies hin: „Es besteht innerhalb der Partei nahezu einmütig Konsens darüber und dies gilt selbst etwa für die Alternative Mitte, dass ihre heutigen Positionen noch vor zehn oder zumindest zwanzig Jahren in der CSU und auch am konservativen Rand der CDU mehrheitsfähig gewesen und geteilt worden sind. Dies gilt auch für die Zeit bis zum Anfang der Sechzigerjahre im Hinblick auf die in der Folge des Zweiten Weltkrieges verlorenen Ostgebiete des Deutschen Reiches.“

Der AfD-Bundesvorstand macht sich die Diskurshoheit der Altparteien zu eigen

Und weiter: „Zu einer Standardforderung der damals in der Union aktiven Politiker gehörte es, …, sich mit diesem Verlust niemals abzufinden. Noch bis in die Mitte der siebziger Jahre wurden die Politiker der sozialliberalen Koalition als Verzichtspolitiker tituliert, die für die Ostpolitik Willy Brandts verantwortlich zeichneten. Mithin kann eine vergleichbare Forderung nicht nur deswegen als rechtsextremistisch kritisiert werden, weil sie im Jahre 2014 erhoben worden ist.“ Zwar sei nicht zu verkennen, dass seit den siebziger Jahren über die Phase der Wiedervereinigung und dem damit im Zusammenhang stehenden „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ (sog. Zwei-plus-Vier-Vertrag) die Zeit über diese Forderung hinweggegangen sei. Allerdings sei die vom Bundesvorstand sich zu Eigen gemachte Ansicht, ein Politiker sollte alleine für diese Aussage in Deutschland im Jahre 2014 seine Posten räumen, vielmehr Ausdruck der erwähnten Diskurshoheit der heutigen Altparteien. Auf deren Sicht müsse sich eine Partei, die einer alternativen Lösung der Deutschland heute betreffenden Probleme verpflichtet sei, jedoch nicht einlassen.

Der revisionistische Bezug einer Forderung macht sie noch nicht rechtsextrem

Ferner hält das Gericht fest: Außerdem bestimme die Bundessatzung (Paragraph 7 Absatz 6 Satz 3), Ordnungsmaßnahmen dürften nicht zu dem Zweck ergriffen werden, die innerparteiliche Meinungsbildung und Demokratie einzuschränken. Natürlich sei dem Bundesvorstand darin beizupflichten, dass mit der von Sayn-Wittgenstein gewählten Formulierung inzident eine Revision der bundesdeutschen Nachkriegspolitik im Hinblick auf die verlorenen Ostgebiete verbunden sei. Allein ein revisionistischer Bezug mache eine Forderung jedoch noch nicht rechtsextrem oder nationalsozialistisch. Davon könne allenfalls die Rede sein, wenn sich Sayn-Wittgenstein für eine gewaltsame Rückführung der Ostprovinzen nach Deutschland ausgesprochen hätte. Dies jedoch lasse sich dem vom Bundesvorstand inkriminierten Artikel – auch sinngemäß – nicht entnehmen. Auch den restlichen Passagen des Blog-Beitrags könne eine öffentliche Demonstration der Wesensverwandtschaft Sayn-Wittgensteins zum Rechtsextremismus oder Nationalsozialismus und damit ein Indiz für die noch heute bei ihr vorhandene Einstellung – entgegen der Ansicht des Bundesvorstandes –  nicht entnommen werden.

Auch weitere Äußerungen Sayn-Wittgensteins von 2014 sind nicht kritikwürdig

Die weiteren Ausführungen Sayn-Wittgensteins in ihrem Blog-Beitrag von 2014 sind nach der Ansicht des Gerichts ebenfalls nicht kritikwürdig. Es setzt sich mit ihnen detailliert auseinander. Auch die mündliche Verhandlung stellt das Gericht eingehend dar, und die Zeugenaussagen werden gegen- und miteinander abgewogen beurteilt. Ich will es aber mit diesen Auszügen aus der Urteilsbegründung bewenden lassen; dieser Beitrag darüber soll nicht noch länger werden. Nur zwei  Absätze im Schlussteil der Urteilsbegründung seien wiedergegeben. Das Gericht schreibt:

Kritikwürdig bleibt, dass Sayn-Wittgenstein 2014 für die Gedächtnisstätte e.V. geworben hat

„Abschließend ist nach der Ansicht der Kammer im Zusammenhang mit dem Artikel festzuhalten, dass sich aus ihm keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Antragsgegnerin mit ihm eine Wesensverwandtschaft zum Rechtsextremismus oder Nationalsozialismus öffentlich dokumentiert hat und auch heute noch vertritt. Allerdings verbliebe auch nach der Einschätzung der Kammer kritikwürdig, dass die Antragsgegnerin seinerzeit mit der Formulierung in dem Artikel zugleich für den Verein geworben hat: „geben sie der Gedächtnisstätte daher die verdiente Unterstützung,… und werden Sie Mitglied!“ Dies wäre gesetzt der Fall zu beanstanden, die Antragsgegnerin hätte den Artikel nach dem Eintritt in die Partei und damit noch während der Zeit ihre Mitgliedschaft abgefasst. Das öffentliche Werben für einen auf der Unvereinbarkeitsliste der Partei stehenden Verein lässt sich nicht mit der Bundessatzung in Einklang bringen und wäre von daher grundsätzlich geeignet, einen gravierenden Ordnungsverstoß im Sinne des § 7 Abs. 5 der Bundessatzung zu begründen.“

Rüge des Gerichts für den Bundesvorstand

Unmissverständlich rügt das Gericht die „äußerst hartnäckige Vorgehensweise des Antragstellers in diesem Verfahren“. Auch wenn der Kammer bewusst sei, dass es vor dem Hintergrund des Artikel 3 des Grundgesetzes keine „Gleichbehandlung im Unrecht“ geben könne, sei gleichwohl nicht von der Hand zu weisen, „dass einiges dafür spricht, dass der Antragsteller je nach betroffenem Mitglied mit zweierlei Maß misst und etwa in der Vergangenheit bei anderen Mitgliedern aus der Führungsebene der Partei noch deutlich gravierendere Verfehlungen toleriert hat, ohne überhaupt erst den Versuch von Ordnungsmaßnahmen in Erwägung zu ziehen“.

Das Ergebnis des 38 Seiten langen Urteils ist für Sayn-Wittgenstein ein sorgfältig begründeter, klarer Freispruch. Der Bundesvorstand will trotzdem beim Bundesschiedsgericht der Partei in die Revision gehen.

PS. Über einen Link zu dem Urteil verfüge ich nicht. Aber ich kann es als pdf-Datei an Interessierte via E-Mail zuschicken.

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*) Andere Gründe und Hintergründe zum Vorgehen gegen Doris von Sayn-Wittgenstein habe ich in einem früheren Beitrag genannt (hier). Deshalb ist das Vorgehen gegen Sayn-Wittgenstein eher als eine Causa AfD zu bewerten als nur als eine Causa Wittgenstein oder Causa Bundesvorstand. Eine Causa Medien ist es darüber hinaus ebenfalls.

**) Ein längeres Interview auf Compact-Online mit Doris von Sayn-Wittgenstein vom 20. April 2019 finden Sie zur Ergänzung hier. Darin äußert sie sich  zum Vorwurf der Holocaust-Leugnung, zum Schiedsgerichtsverfahren, zum Verhalten des Bundesvorstandes ihr gegenüber und zu parteiinternen Machtkämpfen innerhalb der AfD. Befragt wird sie auch zu der mündlichen Verhandlung vor dem Landesschiedsgericht und zu den Spenden an führende AfD-Vertreter aus der Schweiz und zu ihrer Arbeit im Kieler Landtag.

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Ein Kommentar zu „Wessen Causa?“

  1. Sehr geehrter Herr Dr. Krause,

    Können Sie mir bitte wie von Ihnen angeboten das Urteil, das für mich jedenfalls z.T. als politische Gratwandung erscheint, als pdf Datei schicken.
    Herzlichen Dank.

    Mit freundlichem Gruß

    Reinhard Föh

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