Immer noch: Ein Hilferuf aus Erfurt

Der Fall der Geschwister May, anerkannt als politisch Verfolgte in der DDR – Ein Politik-, Verwaltungs- und Justizskandal seit 25 Jahren – Morgen, am 17. Juni, soll gegen sie ein Zwangsräumungsbefehl vollstreckt werden

„Der Fall May in Erfurt nimmt und nimmt kein Ende. Er läuft schon 24 Jahre.“ So war hier an dieser Stelle am 9. Juli 2014 zu lesen. Nun hat der Fall sein 25. Jahr erreicht. Die Bezeichnung „Fall May“ ist eigentlich falsch. Zutreffender ist es, ihn einen „Fall behördlicher Gesetzes- und Rechtsverletzung in Thüringen“ zu nennen. Nach allem, was bisher geschehen ist, ist er ein Skandal. Dessen Vorgeschichte hier. Da die Täter überwiegend in Politik, Verwaltung und Justiz tätig sind, ist er ein Politik-, Verwaltungs- und Justizskandal – teils der Stadt Erfurt, teils des Landes Thüringen. Ihre Opfer sind die Geschwister Claudia und Michael May in Erfurt. Beide sind als politisch Verfolgte anerkannt, ebenso als Schwerbehinderte. Morgen, ausgerechnet am 17. Juni, dem Tag als die DDR 1953 den Volksaufstand 1953 gegen ihr diktatorisches SED-Regime niederschlug, soll gegen beide ein Zwangsräumungsbefehl nun endgültig vollstreckt werden. Damit würden sie obdachlos werden. Daher hat Claudia May abermals einen öffentlichen Hilferuf losgeschickt.

„Der Fall erinnert penetrant an den Fall Mollath“

Über den ersten Hilferuf hatte ich hier berichtet. Den neuen haben nun auch andere aufgegriffen, darunter die von mir schon mehrmals zitierte Karin Zimmermann. Mit Datum vom 15. Juni schreibt sie: „Was da in Thüringen passiert ist und noch immer passiert, ist in einem Rechtsstaat nicht nur unwürdig – es ist undenkbar. Es erinnert penetrant an den Fall Mollath (Bayern), bei dem Ärzte, Psychologen, Gericht, Verwaltungsstellen bis hinauf zur Justizministerin durch ununterbrochenes Unrechtshandeln dafür gesorgt hatten, dass ein Unschuldiger 7 (sieben!) Jahre seines Lebens in der Psychiatrie verbracht hatte. Erst durch das Eingreifen des bayerischen Ministerpräsidenten (Seehofer) war dann aus Unrecht auf einmal ‚Recht’ geworden.“

„Wenn das keine Granate ist – was dann?

Frau Zimmermann weiter: “Der ‚Fall May’ hat – schlimmer noch als der „Fall Mollath“ – inzwischen eine bundespolitische Dimension. Anders als bei Mollath, haben die hier eingeschalteten Gerichte, den Geschwistern May in den wesentlichen Verfahren Recht gegeben. Das Problem ist nur: Die Stadt Erfurt, vertreten durch deren SPD-Oberbürgermeister Bausewein, weigert sich, dieses Recht in die Realität umzusetzen. Seit vielen Jahren schon! Mit Duldung vorgesetzter Stellen! Wenn das keine „Granate“ ist: Was dann? Es geht hier um Grund- und Menschenrechtsfragen, denen – für alle sichtbar – im Bundesland Thüringen seit Jahren keine Geltung verschafft wird. ..… Wie will die Bundesregierung ernsthaft Menschenrechtsverletzungen in fernen Ländern anprangern, wenn sie die Menschenrechte im eigenen Land noch nicht einmal durchzusetzen vermag? Den Menschenrechten überhaupt wird auf diese Weise ein Bärendienst erwiesen und die Glaubwürdigkeit der Regierung insgesamt wird untergraben. Handeln ist geboten – sofort!“

Vor Gerichten Recht bekommen, aber von der Stadt Erfurt nicht befolgt

Der Journalist Günter Kleindienst nennt den Fall einen „in den östlichen Bundesländern bisher einzigartigen Justizskandal“… mit Dutzenden von Gerichtsurteilen, die den Geschwistern May, vertreten durch Claudia May und diverse Anwälte, überwiegend Recht gaben – aber nicht befolgt wurden“. Ihm sei jetzt klar, „daß die von mir bewunderten Mays gegen die Phalanx der MP Althaus, Lieberknecht und OB Ruge, alle ehemals CDU-Blockpartei, sowie OB Bausewein (SPD) kaum Chancen hatten. Dennoch halte ich es für möglich, daß ich es noch erlebe, daß ihnen zu ihrem Recht verholfen wird, wodurch und wie auch immer. Für mich wäre/ist es eine Motivation, bis dahin noch am Leben zu bleiben.“

Der Fall erinnert an das Buch „Blockflöten“

Kleindienst erinnert an das Buch „Blockflöten“ von Christian v. Ditfurth. Der habe darin vor allem geschrieben, wie die CDU die realsozialistische Vergangenheit verdränge. Auf dem Umschlag heiße es: „Dieses Buch ist eine Streitschrift gegen das Verdrängen und Vergessen der realsozialistischen Vergangenheit der CDU. Binnen weniger Wochen wandelte sich die Ost-CDU von einer Staatspartei Ost in eine Staatspartei West – ohne sich auseinanderzusetzen mit der eigenen Verstrickung in das SED-Regime. So bekleiden heute Menschen Führungsfunktionen in Staat und Partei, die gestern den ,Imperialismus der BRD‘ verdammten und den realen Sozialismus priesen.“

Wie einst Kurt Schumacher die Kommunisten nannte

Für Kleindienst sind nicht nur die Linken, sondern auch die Vorgenannten „mehr oder weniger waschechte Kommunisten“, wie sie auch der von ihm geschätzte Kurt Schumacher nennen würde. Sein folgendes Diktum, so Kleindienst, sollte besonders in Deutschland öfter als bisher zitiert werden: „Kommunisten sind rotlackierte Faschisten!“ Hierzu gehöre auch das berühmte, aber viel zu wenig zitierte Diktum von Professor Arnulf Baring: „Die Kommunisten haben den Mentalität der Menschen in der DDR viel tiefer beeinflusst als die Nationalsozialten.“

Entschädigung zwar zugesprochen, aber nicht ausgezahlt, sondern gepfändet

Kleindienst verweist ferner darauf, dass Claudia May kürzlich mit 90 Prozent Schwerbehinderung (Gutachten) „bewertet“ worden sei, ihr jüngerer Bruder mit 100 Prozent. Beider Ausweise seien jedoch noch nicht auf dem neuesten Stand: Die bisherige „alte“ Bewertung, 80 und 90 Prozent, müsse hier noch korrigiert werden. Auch seien den beiden Geschwistern im Jahr 2012 SED-Opfer-Entschädigungen („Haftentschädigungen“) in Höhe von jeweils einer fünfstelligen Summe zugesprochen, aber nicht ausgezahlt worden: „Die Stadt Erfurt hat die Gesamtsumme sogleich pfänden lassen, aus welchen Gründen auch immer. Diese Pfändung war nach einem ähnlichen Fall, über den der Bundesgerichtshof befand, eindeutig zu Unrecht erfolgt. Der renommierte Anwalt für DDR-, Stasi- und/oder Enteignungsopfer in Westdeutschland, Dr. Thomas Gertner, werde, so Claudia May, deshalb notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof ziehen.“

Erfurt: Termin sehr unglücklich, aber Verschieben nicht mehr möglich

In der Ostthüringischen Zeitung vom 15. Juni war unter der Überschrift „Zwangsräumung eines SED-Opfers ausgerechnet am 17. Juni in Erfurt“ (Autor: Kai Mudra) unter andrem dies zu lesen: „Im Rechtsstreit mit den Geschwistern May wurde vom zuständigen Amtsgericht für diesen Tag der Termin zur Zwangsräumung festgelegt. Das Datum stehe fest und könne nicht einfach verschoben werden, bestätigte gestern Erfurts Rechtsdezernent Alexander Hilge unserer Zeitung. Er räumte ein, dass der Tag sehr unglücklich gewählt sei. Die Stadt sehe aber keine Möglichkeit, den Räumungstermin erneut zu verschieben. Wenn Frau May vor diesem Tag ausziehen sollte, sei eine Räumung nicht nötig.

Deutliche Kritik am Räumungstermin auch aus der Staatskanzlei

Weiter heißt es in dem Zeitungsbericht: „Deutliche Kritik am Termin der Zwangsräumung kommt aus der Thüringer Staatskanzlei. In einem Brief von Staatssekretärin Babette Winter an ihren Parteifreund und Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) heißt es: ‚An einem Symboltag einen Symbolort zu räumen, lässt an der notwendigen Sensibilität fehlen.’ Es lasse sich unschwer ein „zeitlicher Zusammenhang des Aufstands und den hieraus folgenden Maßnahmen gegen politisch Andersdenkende mit der Leidensgeschichte der Familie May herstellen“. Staatssekretärin Winter ist die Beauftragte der Landesregierung für die Aufarbeitung des SED-Unrechts. Damit ist das Problem der Zwangsräumung der Geschwister May am 17. Juni ganz weit oben angekommen – auf Regierungsebene.“

Zwangsräumung, weil Erfurt das Haus verkaufen will

Die Zeitung weiter: „Alexander Hilge nennt mehrere Gründe für die Zwangsräumung. Zum einen habe Claudia May keine der an sie gestellten Forderungen beglichen. Die Verbindlichkeiten sollen sich auf etwa 19.000 Euro belaufen. Zudem sei die Stadt auch mit Blick auf ihren Haushalt bestrebt, das von den Mays genutzte Gebäude zu verkaufen. Das Haus, in dem die Geschwister May seit 2003 wohnen, war vergangenen Sommer öffentlich ausgeschrieben worden. Angaben zu möglichen Käufern wollte der Dezernent gestern keine machen. Claudia May fordert ein Vorkaufsrecht.“ Claudia May erhebe seit zwei Jahrzehnten Anspruch auf ein Erfurter Grundstück, welches zur Wendezeit rechtswidrig privatisiert worden sei. 2003 hatten die beiden Mays das Haus durch Zwangsräumung verlassen müssen.

Claudia Mays Brief an den Landtagspräsidenten

An den Thüringer Landtagspräsidenten Christian Carius hatte Frau May am 4. Juni dies geschrieben: „Am 23.02.2015 haben Sie mir vorgeschlagen, einen Gesetzentwurf, ggf. zur ‚Änderung des Richterwahlgesetzes’ für eine Anhörung am 10. März 2015 vorzubereiten, damit positive Änderungen in der Justiz zum Wohle aller auf den Weg gebracht werden können. Der Entwurf liegt Ihnen seit 8. März 2015 vor. Die Anhörung am 10. März 2015 eine Farce, der Ref.-Ltr. Petitionsangelegenheiten gab nur vor, mich anhören zu wollen, und holte dann ‚wohl’ per Notrufmissbrauch die Polizei. Nur dem wohlüberlegten Vorgehen der Polizei ist es zu verdanken, dass (noch) nicht Schlimmeres passierte und das SED-/DDR-Opfer Claudia May in Handschellen abgeführt wurde.“

Einst zwangsweise eingewiesen, jetzt zwangsweise ausgewiesen

Dann erinnert ihn Frau May an einen Brief. In ihm habe Carius den Bundespräsidenten Joachim Gauck dazu aufgefordert, den 17. Juni als Gedenktag für die Opfer der SED-Diktatur auszurufen. Damit würde dem 17. Juni als Tag des Volksaufstandes eine tiefere Bedeutung zugemessen. Dann fährt sie fort: „Am 17. Juni 2015 ab 9:00 Uhr werden die SED-/DDR-Verfolgten Claudia und Michael May … und SED-/DDR-Vermögensgeschädigten … aus dem Zwangsaussiedlungsobjekt Erfurt, Schulze-Delitzsch-Straße 14 zwangsweise in die Obdachlosigkeit unter Wegnahme ihres letzten noch verbliebenen beweglichen Eigentums gesetzt, so die Anordnung des SPD-Oberbürgermeisters Andreas Bausewein. 25 Jahre Potenzierung des SED-/DDR-Nachfolge- und Justiz-Unrechts reichen offenkundig noch immer nicht aus, um den anerkannten SED-/DDR-Verfolgten zu verdeutlichen, dass sie im Rechtsstaat angekommen sind.“ Einst (2003) wurden die Geschwister in das Haus zwangsweise eingewiesen, jetzt (2015) werden sie draus zwangsweise ausgewiesen.

Claudia May: Der Fall ist eine öffentliche Schande

Frau May erwartet vom Landtagspräsidenten, dass er sofort den SPD-Oberbürgermeister Andreas Bausewein öffentlich auffordert, die angeordnete Zwangsräumung zurückzunehmen. Sie beruft sich dabei auf Ziffer 3.8 des Koalitionsvertrages der Landesregierung, in Kraft getreten am 5. Dezember 2014. Dessen Bruch sei offenkundig. Darin ist vereinbart, „Opfer des SED-Unrechts zu unterstützen“ – also auch die beiden Mays. Der SPD-Oberbürgermeister Andreas Bausewein habe den Vertrag mitunterzeichnet. Und wörtlich: „Der Fall Geschwister May ist für den Freistaat Thüringen und die Bundesrepublik Deutschland eine öffentliche Schande. Die Zuständigen und Verantwortlichen können nicht mehr schweigen und das zulassen. Das ist ‚politisch motivierte’ Korruption, gepaart mit ‚gemeingefährlichen’ Straftaten im Amt zum Schaden der Allgemeinheit. Darüber wird kein Gedenktag 17. Juni hinwegtäuschen.“

Morgen zum 17, Juni hat Frau May dazu aufgerufen, um 9 Uhr in Erfurt, Schulze-Delitzsch-Straße 14, eine Menschenkette zu bilden, um das Abschieben der beiden SED-Opfer in die Obdachlosigkeit verhindern.

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