Der feine Unterschied zwischen Schuldenbremse und Defizitbremse
Was ist die Schuldenbremse im Grundgesetz wirklich wert? Antwort: Nichts. Jedenfalls nicht das, was wir Bürger darunter zu verstehen meinen. Denn eine tatsächliche, eine echte Bremse für die deutsche Staatsverschuldung kennt das Grundgesetz nicht. Aber haben wir alle im Frühsommer 2009 nicht in sämtlichen Medien Überschriften wie „Schuldenbremse jetzt im Grundgesetz verankert“ wahrgenommen? Ja, haben wir. Und wurden wir nicht auch in den Folgejahren immer wieder damit beruhigt, das Grundgesetz verpflichte den deutschen Staat auf eine strikte Schuldenbremse, der ausufernden Staatsverschuldung sei nun ein Riegel vorgeschoben, jedenfalls demnächst? Ja, auch das ist geschehen. Aber was 2009 im Grundgesetz verankert wurde, ist keine Schuldenbremse, sondern eine Defizitbremse. Und das ist ein Unterschied.
Das Grundgesetz begrenzt nur das Haushaltsdefizit
Worin besteht der Unterschied? Das Grundgesetz regelt und begrenzt nur die Kreditaufnahme (Neuverschuldung) des Staates, wenn dieser eine Lücke (Defizit) im Staatshaushalt schließen muss, dies aber nicht mit Steuererhöhungen tun will. Nicht dagegen begrenzt das Grundgesetz Verschuldungen aus Zahlungsverpflichtungen, die der Staat außerhalb seines Haushaltes eingeht oder eingegangen ist. Erst dann, wenn der Staat aus solchen Verpflichtungen konkrete Zahlungen leisten muss, wenn Zahlungen also haushaltswirksam werden, unterliegen sie dem 2009 eingeführten Regelwerk des Grundgesetzes. Folglich begrenzt („bremst“) das Grundgesetz nur das Haushaltsdefizit, nicht aber die Verschuldungsmöglichkeit.
Wir werden erleben, was wir schon immer erlebt haben
Somit kann es dazu kommen, dass der Staat aus Zahlungsverpflichtungen Zahlungen zu leisten hat, die er nur mit Kreditaufnahme bewältigen kann. Aber diese Zahlungen und damit die Kreditaufnahmen dafür können so hoch sein, dass mit ihnen die vom Grundgesetz vorgegebene Sperrlinie durchbrochen wird. Was dann? Dann werden wir erleben, was wir schon immer erlebt haben: Dann wird dieser Fall zur „außergewöhnlichen Notsituation“ erklärt. Das Grundgesetz mit seiner vermeintlichen Schuldenbremse in seinen Artikeln 109 und 115 ermöglicht das ausdrücklich. In Artikel 115 steht: „Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden.“ Das Gleiche findet sich in Artikel 109.
Das Einfallstor für zu hohe Neuverschuldung wird auch der ESM sein
Man kann sich ausmalen, wie weit sich auslegen lässt, was außergewöhnlich und was Notsituation ist. Für höhere Verschuldung über die Defizitbegrenzung im Grundgesetz hinaus wird das zu einem Einfallstor. Übergroße Zahlungsverpflichtungen sind keine Schwarzseherei und keine bloße Theorie, sondern bereits Wirklichkeit. Mit den abenteuerlichen Banken-, Staaten- und Euro-Rettungsschirmen erleben wir sie schon. Wer glaubt, dass von 2016 an die Neuverschuldung für den Bund auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts begrenzt ist (Artikel 109 und 115 GG) und daher „nichts mehr passieren“ kann, ist vertrauensselig. Gewiss, begrenzt ist sie, aber gegen solche ausufernden Aktionen wie den ESM richtet das Grundgesetz mit seiner Begrenzung des Haushaltsdefizits nichts aus.
„Das wird zwar immer gesagt, stimmt aber nicht“
Das hat kürzlich der Wirtschaftswissenschaftler und Präsident des Ifo-Instituts in München, Hans-Werner Sinn, bei der Jahresversammlung 2012 seines Instituts am 28. Juni deutlich gemacht. In seinem bedrückenden Vortrag über „Staatsverschuldung und Generationengerechtigkeit“ sagte er, im Grundgesetz gebe es keine Schuldengrenze. „Das wird zwar immer gesagt, stimmt aber nicht. Es gibt nur eine Defizitgrenze.“ Und ein Defizit zeige nicht den wahren Schuldenzuwachs an, weil alles Mögliche herausgenommen sei. Bankenrettungsaktionen mit Staatsgeld würden in der Defizitrechnung nicht berücksichtigt. „Das Grundgesetz greift nur bei den Defiziten, das heißt, die Schulden werden in keiner Weise durch das Grundgesetz begrenzt. Ob das Bundesverfassungsgericht dies auch so toll findet wie die Politiker, wird sich noch herausstellen.“ Das Video mit dem Vortrag ist u.a. hier zu finden: http://www.youtube.com/watch?v=Ui0NOk_lSbU Es dauert 34 Minuten. Dann sieht man auch, wie versteinert die Zuhörer zur Kenntnis nehmen, was Sinn ihnen vorträgt.
Im Grundgesetz Übermaßverschuldung sogar ermöglicht
Obwohl die beiden Grundgesetzartikel 109 und 115 kurz und populär mit dem Begriff Schuldenbremse bedacht werden, kommt dort der Begriff Verschuldung oder gar Schuldenbremse gar nicht vor. Da ist nur von Haushalt, Haushaltsdisziplin und Kredit die Rede. Aber dass staatliche Zahlungsverpflichtungen über jene Kreditaufnahmen, mit denen der Staat sein jeweiliges Haushaltsdefizit stopft, hinausgehen können, ist im Grundgesetz durchaus berücksichtigt. Dort liest man dazu: „Die Aufnahme von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, bedürfen einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Bundesgesetz.“ (Artikel 115, Absatz 1). Aber auch die Bestimmung, dass es für solche Kreditaufnahmen eines Gesetzes bedarf, ist keine Sperre gegen staatliche Übermaßverschuldung als Folge zu hoher Zahlungsverpflichtungen (wie bei den „Euro-Rettungsschirmen“ EFSF und ESM der Fall), sondern damit ermöglicht es solche Verschuldung geradezu. Sind nämlich die gewählten Politiker von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat in höchste Not geraten, kommt die nötige Mehrheit für so ein Gesetz schnell zustande.
Die Wut und das Schäumen der Politiker genießen
Für den für Deutschland und seine Bürger hochgefährlichen ESM wird ein solches Gesetz benötigt. Aber Verfassungsklagen per Eilanträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung haben vereitelt, dass der Bundespräsident die Ratifizierungsgesetze für den ESM und Fiskalpakt, die der Bundestag am 29. Juni im Bundestag verabschiedet hat, noch nicht postwendend unterzeichnet hat. Das Bundesverfassungsgericht hatte ihn gebeten, damit zu warten. Es ging darum, vollendete Tatsachen zu verhindern, bevor das Gericht in der Hauptsache entscheiden konnte. Die Richter haben die schnelle summarische Prüfung, wie sie sonst in Eilverfahren üblich ist, abgelehnt und wollen gründlich prüfen. Das wird, wie das Gericht am 16. Juni bekanntgab, bis zum 12. September dauern. Zumindest bis dahin also liegt das Verabschiedete auf Eis. Die führenden Politiker und ihre Gefolgschaft schäumen; ihr Überrumpeln auch des Verfassungsgerichts ist schiefgegangen. Ihre Wut zu genießen, sollte uns Bürgern nicht als Genusssucht angekreidet werden. Würde der ESM mit seinen möglichen und wahrscheinlichen Folgen doch noch Wirklichkeit werden, werden wir erst recht nichts mehr zu lachen haben.
Es ist weiterhin mit dem Schlimmsten zu rechnen
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zur Schuldenregel im Grundgesetz hatte schon 2011 die „finanziellen Transaktionen“ unter seine Lupe genommen und Konstruktionsfehler, erhebliche Gestaltungsspielräume, Konkretisierungsbedarf und Möglichkeiten zum Umgehen der Schuldenregel offengelegt (Ziffern 305 ff. in seinem Jahresgutachten 2011). Letztlich also hängt es – wie schon bisher – noch immer vom politischen Willen der jeweils politisch Herrschenden ab, ob die Staatsverschuldung gebremst, ob zurückgeführt, ob eine Sperrlinie eingehalten wird oder ob nichts dergleichen geschieht. Oder anders gesagt: Es ist weiterhin mit dem Schlimmsten zu rechnen.
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