Hat Deutschland im ESM-Vertrag ein Vetorecht?

Das Bundesfinanzministerium sagt ja – aber so sicher ist das nicht

Die Bundesregierung und die übrige politische Führung in Deutschland vernebelt, was es mit dem geplanten „Euro-Rettungsschirm ESM“ wirklich auf sich hat und was Deutschland damit blüht. Besonders beteiligt sich das Bundesfinanzministerium (BFM) daran. Ein Beispiel findet man auch auf der Internet-Plattform Youtube. Dort steht eine BFM-Information mit dem Titel „Die Funktionsweise des ESM – einfach erklärt.“ Sie gaukelt unter der Überschrift „Ziele und Aufgaben“ vor, der Europäische Stabilitätsmechanismus beschere Sicherheit, Klarheit und Solidität. Dort ist auch zu lesen, worin die Voraussetzungen bestehen, wenn strauchelnde Euro-Staaten Kredithilfe bekommen oder der ESM (in Ausnahmefällen) deren Staatsanleihen kauft und ihnen auf diese Weise zu frischem Geld verhilft. Eine Voraussetzung wird, aufs Knappste eingedampft, so benannt: „Einstimmige Entscheidung: Durch Finanzminister als Gouverneure des ESM“.

Einstimmigkeit bedeutet Vetorecht

Das ist nicht anders zu verstehen als: Wenn die Euro-Finanzminister (der „ESM-Gouverneursrat“) über eine ESM-Zahlung an einen von Zahlungsunfähigkeit bedrohten Mitgliedstaat zu entscheiden haben, bekommt dieser Staat diese Hilfe nur dann, wenn die Finanzminister den Beschluss einstimmig gefasst haben. Das heißt: Jeder durch seinen Finanzminister vertretene Euro-Staat kann durch sein Veto die Hilfe vereiteln; er hat ein Vetorecht. Wenn also der deutsche Finanzminister (Gouverneur) einer Hilfe nicht zustimmt, bedeutet dies, dass auch Deutschland ein Vetorecht hat.

Aber wo steht das Vetorecht im ESM?

Nun wüsste man natürlich gern, wo denn im ESM-Vertrag dieses Vetorecht verankert ist. Eine telefonische Anfrage beim BFM ergibt: Seine Pressestelle weiß es nicht. Aber sie vermittelt weiter an einen Fachkundigen im Haus. Die Auskunft dort lautet, dies stehe in Artikel 4 des ESM-Vertragsentwurfs. Der regelt die Stimmrechte. Da allerdings, jedenfalls in der „inoffiziellen Arbeitsübersetzung“, findet sich vom besagten Vetorecht nichts, sondern nur Verklausuliertes. Unter 2. heißt es: „Die Beschlüsse des Gouverneursrats und des Direktoriums werden im gegenseitigen Einvernehmen nach Maßgabe des vorliegenden Vertrags mit qualifizierter Mehrheit oder einfacher Mehrheit gefasst. Diese Gremien sind beschlussfähig, wenn bei der Abstimmung über die zu fassenden Beschlüsse 2/3 der stimmberechtigten Mitglieder vertreten sind, die mindestens 2/3 der Stimmrechte darstellen.“

Vorläufiges Fazit: Nix Vetorecht, Mehrheit genügt

Vorläufiges Fazit: Nix Vetorecht, Mehrheit genügt, teils nur eine einfache. Und wieso im gegenseitigen Einvernehmen? Denn wenn die Minderheit durch die Mehrheit überstimmt wird, dann ist das alles andere als ein einvernehmlicher Beschluss, die Minderheit hat die Einvernehmlichkeit doch ausdrücklich verweigert. Es genügen für einen Beschluss zwei Drittel der Stimmberechtigten und zwei Drittel der Stimmrechte. Aber was ist, wenn zum Beispiel der deutsche Finanzminister durch was auch immer an seiner Anwesenheit verhindert ist? Beschlussfähig ist der Gouverneursrat auch dann, denn dafür genügen 66 Prozent der Stimmrechte. In solchem Fall könnte der Rat auch ohne (und vielleicht) gegen Deutschland entscheiden.

Was gilt denn nun: Einstimmigkeit oder Mehrheit?

Unter 3. liest man: „Ein im gegenseitigen Einvernehmen gefasster Beschluss erfordert dessen einstimmige Befürwortung oder Ablehnung durch die an der Abstimmung teilnehmenden Mitglieder. Enthaltungen haben keine Auswirkungen auf im gegenseitigen Einvernehmen gefasste Beschlüsse.“

Aha! Hier bedeutet gegenseitiges Einvernehmen also nun doch Einstimmigkeit. Aber warum dann die widersinnige Formulierung in Ziffer 2? Und was gilt denn nun? Einstimmigkeit oder Mehrheit? Und wenn einvernehmlich gefasste Beschlüsse auch dann als einstimmig gefasst gelten, falls sich einer oder mehrere Finanzminister der Stimme enthalten, lässt sich die Enthaltung im Heimatland als Widerstand ausgeben und in der Euro-Union als verantwortungsbewusstes Handeln um der Integration willen – eine Säuselei, die gleich auf zwei Heiligenscheine aus ist: auf einen zuhause und auf einen bei der integrationsseligen Politikerkollegschaft in Europa.

Wieso „im gegenseitigen Einvernehmen“ statt „einstimmig“?

Artikel 5 regelt, für welche Beschlüsse der Gouverneursrat „gegenseitiges Einvernehmen herzustellen“ hat. Ist damit Einstimmigkeit gemeint? Wenn ja, warum heißt es dann nicht so? Erforderlich ist dieses Einvernehmen unter anderem für die ESM-Finanzhilfen, für die damit verbundenen Auflagen, finanziellen Bedingungen und Wahl der Instrumente, für das Zinsverhandlungsmandat der EU-Kommission und für Änderungen bei den ESM-Finanzhilfe-Instrumenten.

Das versteckte und indirekte Vetorecht

Aber nach BFM-Auskunft gibt es sehr wohl ein Vetorecht für Deutschland. Doch ist es nicht leicht zu finden. Das Ministerium nennt es ein indirektes Vetorecht, weil eine Mehrheit gegen Deutschland nicht zusammenkommen könne. Es verweist auf Artikel 4, Ziffer 4  des Vertragsentwurfs. Ziffer 4 lautet: „Ein durch qualifizierte Mehrheit gefasster Beschluss erfordert eine Mehrheit von achtzig Prozent (80 %) der abgegebenen Stimmen.“ Ziffer 5 besagt: „Ein durch einfache Mehrheit gefasster Beschluss erfordert eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen.“

Wann es ohne Deutschland nicht geht

Der Stimmenanteil eines Euro-Landes bemisst sich nach Ziffer 6 des Artikels 4 daran, mit wieviel es am genehmigten Grundkapital des ESM beteiligt ist. Danach beläuft sich der deutsche Anteil auf etwas über 27 Prozent. Alle übrigen zusammen kommen also nur auf 73, nicht auf 80 Prozent. Insofern könnte Deutschland nicht überstimmt werden, wenn es den Beschluss nicht mittragen will. Sollte aber  Deutschland an einer Beschlussfassung – warum auch immer – nicht teilnehmen können, nützt den Deutschen dieses „indirekte Vetorecht“ nichts, denn beschlussfähig ist der Gouverneursrat auch mit 66 Prozent. Das steht in Satz 2 unter 2. in Artikel 4: „Diese Gremien sind beschlussfähig, wenn bei der Abstimmung über die zu fassenden Beschlüsse 2/3 der stimmberechtigten Mitglieder vertreten sind, die mindestens 2/3 der Stimmrechte darstellen.“  Danach ist also der Gouverneursrat mit 66 Prozent der vertretenen Stimmrechte auch ohne Deutschland beschlussfähig und kann, wenn  Einstimmigkeit vorgeschrieben ist, einstimmig ohne Deutschland beschließen. Deshalb darf Deutschland bei wichtigen Beschlüssen auf keinen Fall fehlen.“

Wann qualifizierte Mehrheit, wann einfache?

Auch kann der Beitragsschlüssel nach ESM-Artikel 37 korrigiert werden. Schwer durchschaubar verändern sich dann die Stimmrechte. Außerdem gilt die 80-Prozent-Hürde nur für Beschlüsse, die mit qualifizierter Mehrheit zu fassen sind. Aber wann und wofür ein Beschluss einer qualifizierten oder einer nur einfachen Mehrheit bedarf, ist im Vertragsentwurf nicht zu finden. Oder ist auch das irgendwo versteckt?

Und dann soll man den beiden vertrauen?

Vor allem aber: Was nützt den Deutschen ein Vetorecht der deutschen Regierung, sei es ein direktes oder indirektes, wenn Regierende wie Merkel und Schäuble mit ihrer Clique und Claque die deutschen Bürger mit dem Hinweis auf ein deutsches Vetorecht nur ruhigstellen wollen, aber im Traum nicht daran denken, es auch auszuüben? Hat nicht Schäuble vom Bundestag einen Blankoscheck für die weiteren Schritte in der Euro-Politik verlangt und die damit verbundene Strategie hin zu einer politischen Union? Es steht in einem streng vertraulichen Dokument mit 41 Seiten, an die Öffentlichkeit gebracht vom Handelsblatt am 24. August. Schäuble erläutert darin seine Pläne wie er die erweiterten Befugnisse des Rettungsschirms konkret ausgestalten will. Und wollten nicht Schäuble und Merkel die Öffentlichkeit und den Bundestag durch Informationsbegrenzung und Verharmlosen der ESM-Regeln und deren Folgen überlisten und damit die Zustimmung zum ESM erschleichen? Frau Merkel spricht in Deutschland anders, als sie in Brüssel und Paris handelt. Und dann soll man den beiden vertrauen, dass sie im Gouverneursrat gegen etwas stimmen, was Deutschland noch schwerer schadet als schon bisher und gar ruiniert? Das glaube, wer will – er wird schwer enttäuscht und privat mit ruiniert werden.

Strikte Auflagen? Sie sind Placebos wie die Maastricht-Kriterien

Schäubles Ministerium verabreicht den Deutschen nur eine Beruhigungspille, wenn es versichert, die EMS-Hilfsgelder würden doch nur „unter strikten Auflagen vergeben. In der Tat, im EMS-Entwurf stehen solche Auflagen drin. Aber was sind solche Vertragsbestimmungen später bei ihrer Anwendung wirklich wert? Gerade wenn es darauf ankam, die sogar wichtigsten Regeln einzuhalten, haben sich die EU-Politiker gesetzeswidrig und straflos über sie hinweggesetzt. Wir haben das erlebt mit dem Lissabon-Vertrag, mit den Maastricht-Kriterien, mit der Non-bail-out-Bestimmung und mit dem Statut der Europäischen Zentralbank. Wenn dem politischen EU-Führungsapparat das nächste Mal das Wasser immer noch oder schon wieder und dann womöglich noch höher über dem Hals steht, werden sich auch die „strikten Auflagen“ als bloße Placebos für das Volk entpuppen.

Juristen und Bundesrechnungshof warnen vor dem ESM

Das juristische Personal des Bundestages und der Bundesrechnungshof sehen im Euro-Rettungsschirm das deutsche Budgetrecht und die Geldwertstabilität in Gefahr. Ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags, erstellt im Februar, aber erst im April öffentlich bekannt geworden, warnt die Bundestagsabgeordneten ausdrücklich davor, dem Euro-Rettungsschirm ESM zuzustimmen, vor allem aus diesen Gründen: Erstens werde die Entscheidungsmacht des Parlamentes über künftige deutsche Hilfszahlungen aus der Hand gegeben, da eine Kontrolle durch den nationalen Gesetzgeber oder gar seine Beteiligung an der Entscheidung auf supranationaler Ebene nicht vorgesehen sei. Damit würde der nationale Gesetzgeber insoweit seine Entscheidungshoheit über den Haushalt, über die Höhe der Ausgaben und Verpflichtungen des Staates beschränken. Zweitens würden die Euro-Staaten unwiderrufliche und unbedingte Garantien eingehen. Drittens könnten in die Schuldenländer nahezu unbegrenzte Finanzmittel abfließen.

Eine Selbstkastrierung Deutschlands

Würde also der bisher vorliegende Vertragsentwurf zu diesem Rettungsschirm, amtlich Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) genannt, im Bundestag wirklich so abgenickt, gäbe das deutsche Parlament im Wesentlichen sein Budget-Recht und Deutschland das Hoheitsrecht über seine Haushalts- und Finanzpolitik auf. Es wäre eine Selbstkastrierung Deutschlands.

Was erst ein Video im Internet enthüllt

Verborgene Ziele der Euro-Rettung enthüllt das Vier-Minuten-Video, das inzwischen starke Verbreitung im Internet gefunden hat. Auf Welt-Online liest man dazu: „Interessant daran ist zweierlei. Zum einen sind die hier genannten Fakten in Deutschland öffentlich bislang nicht debattiert worden, obwohl der Vertragsentwurf den Fraktionen bereits seit Mai vorliegt. Zum anderen mögen sich die Volksvertreter nicht direkt zu den im Video thematisierten Sachverhalten äußern. Die neue EU-Finanzbehörde strebt Rechte an, die Demokraten sprachlos machen. Die Politik weiß es seit Mai – und schweigt.“ Hier der Link zum Video: http://www.youtube.com/watch?v=d6JKlbbvcu0 

Deutschland rettet die anderen und sich selbst bankrott

Was der Bundestag in der vorliegenden Form beschließen soll, sind weitreichende und folgenschwere Ermächtigungen zugunsten einer zentralisierten europäischen Planwirtschaft der EU-Organe in Brüssel. Deutsches Haushaltsrecht und damit finanzielle Souveränität werden unwiderruflich an Zentralorgane abgegeben, die weder rechtlich wirklich legitimiert noch demokratisch wirklich kontrolliert sind. Den überstaatlichen Einrichtungen EFSF und ESM erhalten Hoheits- und Regierungsrechte, gegen die einzelne Euro-Staaten nichts mehr ausrichten können, und das Personal dieser Institutionen erhält gegen rechtsstaatliche Klagen umfassende, nicht aufhebbare Immunität. Die bis zur Billionen-Höhe möglichen Geldtransfers können in den Euro-Staaten kommunale, regionale und nationale Ausgabenplanung schnell über den Haufen werfen und damit nahezu unmöglich machen. Die nationalen Ausgaben für Infrastruktur, Bildungswesen, Sozialleistungen, innere und äußere Sicherheit sowie vieles andere mehr sind gefährdet. Den Euro-Staatenbürgern stehen schwere Eingriffe und Veränderungen in ihrem gewohnten Leben bevor. Deutschland rettet die anderen und sich selbst bankrott.

Dem Bundestag Beine machen, dieses EMS-Vorhaben abzulehnen

Wer befreit es von dieser ruinösen Politik. Der Bundestag müsste und könnte es. Das Bundesverfassungsgericht hat ihm am 7. September mit seiner Entscheidung zu den drei Verfassungsbeschwerden gegen die Griechenlandhilfe und den ersten Euro-Rettungsschirm den Rücken gestärkt. Danach bedarf jede große Hilfeleistung für andere Euro-Staaten im Einzelnen der Zustimmung des Parlaments. Gerichtspräsident Andreas Vosskuhle hat betont, das Urteil dürfe „nicht fehlgedeutet werden in eine verfassungsrechtliche Blanko-Ermächtigung für weitere Rettungspakete“. Es dürfe bei den Zahlungen keinen Automatismus geben, der die Rechte der Abgeordneten aushebele. Doch mit dieser Entscheidung sollten sich die Deutschen nicht einlullen lassen und zur Ruhe legen. Das Gericht verlangt nur die Zustimmung des Haushaltsausschusses. Und wie in der FAZ zu lesen war, stehen seine Mitglieder „in der innerparteilichen Hierarchie weit unten“ und würden sich kaum dafür entscheiden, die Regierung zu lähmen. Auch sei der Leitsatz des Urteils über das Zustimmungserfordernis keineswegs so eindeutig, wie er scheine. Daher müssen wir Bürger dem Bundestag und seinen Abgeordneten Beine machen, dieses EMS-Vorhaben abzulehnen. Noch ist der ESM-Vertrag nicht verabschiedet. Noch lässt sich dieses Ermächtigungsgesetz durch immer größere Protestbewegung verhindern. Mit einem anderen, früheren Ermächtigungsgesetz hat sich Deutschland schon einmal in eine Katastrophe treiben lassen.

 

Zur Erinnerung: Es gibt zwei Euro-Rettungsschirme – den modifizierten vorläufigen Mechanismus EFSF und seinen dauerhaften Nachfolger ESM, der Mitte 2013 in Kraft tritt. Beide Instrumente sollen vor Zahlungsunfähigkeit stehenden Euro-Staaten im Notfall besser helfen können, ohne dass neue, die Finanzmärkte irritierende Rettungsaktionen der 17 Euro-Staaten nötig sind. Die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (European Financial Stability Facility, EFSF) wurde am 10. Mai 2010 als vorläufiger Euro-Rettungsschirm von einem EU-Gipfel ins Leben gerufen. Sie wird Mitte 2013 vom dauerhaften Rettungsschirms ESM abgelöst, der über dieselben Möglichkeiten verfügen soll.

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