Banken retten, Staaten retten, Euro retten

Aber wann rettet die EU endlich auch das Subsidiaritätsprinzip?

Fehlentwicklungen in der Europäischen Union gibt es viele. Die bisher gefährlichste und folgenschwerste sind die Euro-Währungsunion von 1999 mit ihren nunmehr sichtbaren Folgen und jetzt die Euro-Rettungsschirme EFSF und EMS. Erst wurden Banken gerettet, dann waren Staaten zu retten, nun versuchen die politisch Führenden den Euro und die Währungsunion zu retten. Nicht zuletzt auch sich selbst. Dass nun auch der EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark seinen Rücktritt aus dem EZB-Direktorium und -Rat angekündigt hat, ist ein weiteres Alarmzeichen. Dass Ende April vor ihm schon Axel Weber sein Amt als Bundesbank-Präsident und Mitglied im EZB-Rat niedergelegt hat, ist ebenfalls eines gewesen. Doch abgesehen von der Angst vor allem der Deutschen derzeit vor den katastrophalen Folgen einer Überschuldungs- und uferlosen Transferunion: Was stört die Menschen an der Europäischen Union, wie sie geworden ist und immer weiter zu werden sich anschickt, am meisten? Es ist die Tatsache, dass sie zu stark und immer stärker in die Mitgliedstaaten hineinregiert, den Mitgliedstaaten immer mehr nationale Hoheitsrechte abzwingt und damit das Subsidiaritätsprinzip missachtet, auf dem die Union ausdrücklich gegründet ist. Wann rettet die EU endlich auch dieses Subsidiaritätsprinzip?

Es geht darum, dass Staat und Gesellschaft dezentral verfasst sein müssen

Für den Begriff Subsidiarität ein allgemein akzeptiertes, einfacheres Wort zu finden, ist wohl noch nicht gelungen, zumindest hat sich keins durchgesetzt. Seine Bedeutung jedenfalls ist diese: Soweit die Bürger ihre Angelegenheiten besser selbst und in eigener Verantwortung regeln können, soll sie der Staat (mit seinen Untergliederungen und seinen Behörden) in Ruhe lassen und nicht hineinfunken. Das gleiche Prinzip gilt im staatlichen Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten, also im Fall Deutschlands im Verhältnis der EU zu Bund, Ländern und Gemeinden. In das, was die jeweils untere staatliche Ebene sinnvollerweise selbst bewältigen kann, darf sich die jeweils obere nicht einmischen. Es geht also darum, dass Staat und Gesellschaft dezentral verfasst sind und dass sich ihre Einzelglieder möglichst selbst Regeln geben und sich selbst verwalten. Nur unabdingbar Gemeinsames gehört in zentrale Hand wie zum Beispiel die überregionale Verkehrsplanung, das Justizwesen und vor allem die innere und äußere Sicherheit (also Polizei und Militär). Man könnte und sollte daher besser von dem Dezentralisierungsprinzip sprechen. Dieser Begriff würde dann auch von der breiten Bevölkerung verstanden.

Aber Dezentralisierung stört das politische Machtinteresse

Diesem Dezentralisierungsprinzip hat sich auch die Europäische Union zu unterwerfen. Das Prinzip wird zwar wunderbar beschworen, aber zu oft und immer wieder verletzt. Verletzt wird es vor allem von der Europäischen Kommission, die sich als „Motor der Integration“ versteht und so auch konzipiert ist. Ohnehin neigt eine Zentrale in föderalen Systemen stets dazu, Zuständigkeiten an sich zu ziehen. Bezeichnend dafür war zum Beispiel, als Deutschland 2007 im EU-Reformvertrag das Dezentralisierungsprinzip verschärfen, also wieder stärken wollte. Daraufhin warf EU-Kommissionspräsident Jose´ Manuel Barroso Deutschland vor, damit versuche es, die EU zu schwächen. Das deutsche Plädoyer, die Macht dort zu belassen, wo sie möglichst bürgernah ausgeübt werden könne, sei in Wirklichkeit gegen die europäischen Institutionen gerichtet. Hier trat das politische Machtinteresse des EU-Apparats besonders unverhüllt zutage.

Bei Widerstand von Volk und Bundestag muss „Brüssel“ ran

Aber das Dezentralisierungsprinzip durchzusetzen, ist unbedingt notwendig. Zuviel von dem, was der deutsche Gesetzgeber beschließt, wird ihm schon zu lange von der EU vorgegeben und dann in Form von Richtlinien, die zu nationalstaatlichen Gesetzen gemacht werden müssen, geradezu diktiert. Schlimmer noch, die jeweils im Bund Regierenden und ihre politischen Hilfskräfte spielen ihre eigenen Vorhaben der Kommission und dem Ministerrat in Brüssel auch gern bewusst in die Hände. Es sind Vorhaben, von denen sie wissen, dass sie in der deutschen Öffentlichkeit und im Bundestag auf großen Widerstand stoßen und daher dort nur schwer oder gar nicht durchzusetzen sind. Die FAZ schrieb in einem Leitkommentar, der Bundestag nutze den Brüsseler Umweg zum Durchsetzen von Vorhaben, die nach deutschem Recht zwielichtig seien (FAZ vom 14. Juli 2007). Der Staatsrechtswissenschaftler Hans Herbert von Arnim spricht von einem „Verantwortungsverschiebebahnhof EU“. Er biete den nationalen Regierungen die verführerische Möglichkeit, unpopuläre Entscheidungen Brüssel zuzuschieben und sich selbst scheinbar reinzuwaschen. Damit würden nationale Kontrollen umgangen.

Das Brüsseler Politbüro regiert an den nationalen Parlamenten vorbei

Andere Mitgliedstaaten können ebenso verfahren, wenn es ihnen nützlich erscheint. In Brüssel stehen die Türen dafür weit offen. Hier ist man für alles dankbar, was die EU-Rolle als staatliches Zentralorgan zu einem ausweiten und stärken hilft. Ein typisches Beispiel dafür ist das rechtsstaatswidrige Antidiskriminierungsgesetz, das umbenannt wurde in Gleichbehandlungsgesetz, weil das freundlicher klingt. Der Philologe und Journalist Michael Paulwitz hat die schleichende Entdemokratisierung so ausgedrückt: „Statt sich gegen ihre Entmündigung zu wehren, scheinen deutsche Politiker und Parlamentarier eher noch froh, dass ihnen jemand die Arbeit abnimmt, oder sie mauscheln im kleinen EU-Zirkel aus, was zuhause auf demokratischem Wege nicht durchsetzbar ist. Die EU wird zum Staat ohne Souverän, in dem Küchenkabinette und willkürlich eingerichtete ‚Agenturen’ ohne Legitimation und Kontrolle den Kurs vorgeben. Weltferne linksideologische Richtlinien etwa zur Gleichstellungspolitik, zu Asyl und Einwanderung werden ohne demokratische Willensbildung zu nationalem Recht.“ So werden beide Organe, Kommission und Ministerrat, mehr und mehr zu einem Politbüro, das an den nationalstaatlichen Parlamenten vorbeiregiert und diese Parlamente nur als demokratische Staffage benutzt.

Herzog: Der Bundestag ist nur noch Vollzugsorgan

Warnend zu dieser Entwicklung hat sich auch der ehemalige Bundespräsident und Verfassungsrichter Roman Herzog geäußert. Ich berufe mich zwar ungern auf ihn, weil er als Verfassungsgerichtspräsident zumindest einmal rechtsstaatswidrig gehandelt hat und zu den Rechtswidrigkeiten, die als Folge daraus entstanden sind, schweigt. Aber in unserem Zusammenhang immerhin ist er zitierfähig. In der Tageszeitung „Die Welt“ schrieb er im Januar 2007, mittlerweile würden schon 84 Prozent der deutschen Gesetzgebung*) von der Europäischen Kommission besorgt, der Bundestag sei nur noch Vollzugsorgan. „Das Grundgesetz“, so rügte er, „sieht jedoch das Parlament als den zentralen Akteur der Gestaltung des politischen Gemeinwesens vor. Es stellt sich daher die Frage, ob man die Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch uneingeschränkt als parlamentarische Demokratie bezeichnen kann.“ Nach meiner Wahrnehmung und Meinung ist das keine Frage mehr, sondern längst eine Tatsache.

Nationale Parlamente als „teure Fassaden der Ohnmächtigkeit“

Nicht anders hat sich, als er noch lebte, Ralph Dahrendorf geäußert. Die Entmachtung der Parlamente schreite vor allem in der Europäischen Union zügig fort. Wenn über 80 Prozent aller wichtigen Gesetze nicht mehr die nationalen Parlamente entscheiden könnten, hätten die Volksvertretungen ausgedient. Sie würden zu „teuren Fassaden der Ohnmächtigkeit“. Das SPD-Mitglied Rolf Linkohr, viele Jahre Abgeordneter im EU-Parlament (1979 bis 2004) und promovierter Physiker, hat es so formuliert: „Vieles von dem, was in den Mitgliedstaaten gewachsen ist, sollte nicht von Brüssel zerstört werden. Sonst wenden sich die Menschen weiter von der EU ab.“

2006 eine Ermächtigung des Bundestags für die Regierung

Roman Herzog ist es auch gewesen, der auf eine Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung im September 2006 zur EU-Politik aufmerksam gemacht hat. Er schrieb dazu: „Delikat ist der Teil der Vereinbarung, welcher der Bundesregierung ausdrücklich das Recht zubilligt, in Kenntnis der Voten des Deutschen Bundestages … aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen abweichende Entscheidungen zu treffen.“ Zum gleichen Sachverhalt war dazu in der Zeitschrift Nation & Europa (Heft 2/2007, Seite 3) zu lesen: Damit könne und dürfe die Bundesregierung, auch gegen ausdrückliche Beschlüsse des Bundestages handeln. Und wörtlich: „Wer fühlt sich da nicht an das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 erinnert? Mit ihm räumten die Abgeordneten der Reichsregierung das Recht ein, ohne parlamentarische Zustimmung Gesetze zu erlassen und internationale Verträge zu schließen. So öffnete sich der Weg in die Diktatur.“

Ein Vorschlag gegen die Zentralisierung

Um dem entgegenzuwirken, so lautete ein Vorschlag, sollte eine bestimmte Zahl einzelstaatlicher Parlamente Gesetzesvorhaben der EU-Kommission, die sie für verfehlt halten, schon im Ansatz beenden können. Im (ursprünglichen und abgelehnten) Verfassungsvertrag war so etwas schon vorgesehen. Danach sollte die EU-Kommission ein von ihr gewolltes Gesetz überprüfen müssen, wenn ein Drittel der einzelstaatlichen Parlamente gegen das Vorhaben Vorbehalte äußere. Nur überprüfen reicht allerdings nicht aus. Die Kommission würde dann zwar überprüfen, könnte aber sagen, sie habe überprüft, und setzt dann ihr Werk unverändert und unverdrossen einfach fort.

Ein anderer Vorschlag, um die Zentralisierung zu stoppen

Ein FAZ-Leser meinte damals dazu, es gäbe eine Möglichkeit, diese Tendenz zu stoppen, wenn nicht gar umzukehren. Die EU-Kommission müsse ihre Vorschläge nur so verständlich begründen, dass sie auch in einer breiten Öffentlichkeit wirklich diskutiert werden könnten. Auch müsse sie begründen, warum die jeweilige Materie notwendigerweise gemeinschaftlich und nicht einzelstaatlich zu regeln sei. Außerdem müssten die einzelstaatlichen Parlamente ein Einspruchsrecht haben. Ferner sei den Bürgern der Einzelstaaten europarechtlich ein Recht auf Volksentscheide zuzugestehen – mit dem Ziel, dem eigenen Parlament aufzugeben, sich mit der Materie zu befassen und dabei den Volksentscheid zu berücksichtigen. Dann werde sich die Kommission, um sich unnötige Arbeit zu ersparen, bemühen, nur solche Vorschläge zu unterbreiten, „die auch Aussicht haben, vom Wahlvolk getragen zu werden. Die Tendenz zur unnötigen Zentralisierung dürfte dann ihren Reiz für die Kommission verlieren.“ Ich allerdings habe Zweifel, ob das funktioniert. Denn angesichts dessen, dass sich die EU-Bürokratie schon jetzt unnötige Arbeit nicht erspart, sondern darin auch ihren Selbsterhalt sieht, wird der Anreiz, von unnötiger Arbeit die Finger zulassen, auch dann gegen Null tendieren.

Der EuGH unterstützt die schleichende Zentralisierung

Auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, der EuGH, überschreitet seine Kompetenz. Der Staatsrechtswissenschaftler Hans Herbert von Arnim bezeichnet ihn als ein politisches Gericht, das ungleich besetzt und schwach legitimiert ist. Roman Herzog attestiert ihm eine systematische Neigung, mit seinen Entscheidungen die EU-Zuständigkeit zu begünstigen. Damit unterstützt der Gerichtshof die schleichende, aber zu vermeidende Zentralisierung und hilft mit, das Subsidiaritätsprinzip zu untergraben. Sorgfältig formulierte Kommentare renommierter Rechtswissenschaftler zu manchen EuGH-Urteilen lauten „erbärmlich, abenteuerlich, unhaltbar“. Die FAZ (22. Februar 2007) überschrieb einen Leitartikel mit „Europa braucht neue Richter“. Der Gerichtshof habe alle Barrieren gegen die Regelungsflut von Kommission und Rat eingerissen. Weiteres dazu konnte man in der FAZ vom 26. und 27. Juni 2007 nachlesen.

Vorwürfe gegen den EuGH auch von Hans-Jürgen Papier

Hans-Jürgen Papier, auch er einst Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat dem EuGH ebenfalls vorgeworfen, er beachte das Dezentralisierungsprinzip nur mangelhaft. Die EU dürfe ihre Kompetenzen nur ausüben, wenn die Mitgliedstaaten einer Aufgabe nicht selbst ausreichend gerecht werden könnten. Wörtlich sagte er: „Dies ist schon geltendes Recht, wird aber in der Praxis nicht immer ausreichend beachtet. Dies gilt auch für die Rechtsprechung des EuGH.“ Den gleichen Vorwurf hat Peer Steinbrück, als er noch Bundesfinanzminister war, gegenüber den Richtern in Luxemburg erhoben: Sie entschieden inzwischen über Dinge, die nach wie vor in nationaler Souveränität lägen. Die EU habe schließlich keine Allzuständigkeit.

„Demokratie setzt die kleine Einheit voraus“

Der Staatsrechtswissenschaftler Karl Albrecht Schachtschneider hat während der Diskussion um den EU-Verfassungsvertrag konstatiert: „Die europäische Integration hat der Demokratie der Völker längst die Substanz entzogen und damit dem Sozialprinzip die bewegende Kraft genommen. … Den demokratischen und sozialen Staat, den Rechtsstaat, würden auch die Deutschen verteidigen, wenn man sie denn ließe. Ohne Referenden ist die weitere Entwicklung der Union zum Bundesstaat, die der Verfassungsvertrag betreibt, Verfassungsbruch. Das republikanische Fundamentalprinzip des Artikel 20, Absatz 2, Satz 1 des Grundgesetzes: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ ist längst nicht mehr Wirklichkeit. … Demokratie setzt die kleine Einheit voraus, und nur in kleinen Einheiten hat die Solidarität, das Lebensprinzip einer Republik, eine Chance.“

*) Nach einem Beitrag von Annette Elisabeth Töller sollen es „zumindest für den Bundestag“ nur 40 Prozent sein (in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1/2008, Seite 3 ff. und FAZ vom 24. April 2008).

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