Ins Steuer-Chaos Ordnung bringen

Mit der nachgelagerten Besteuerung gelänge das / Erinnerung an das Konzept von Joachim Mitschke, der heute 75. Geburtstag hat

Der Befund liegt seit langem offen zutage: Das deutsche Einkommensteuerrecht ist unsystematisch, unlogisch, in sich widersprüchlich, ungerecht, viel zu kompliziert, unüberschaubar, unverständlich und viel zu aufwendig, kurz und gut: geradezu chaotisch. Bürger und Fachleute vereint über den Befund seltene Einmütigkeit. Ebenso über die Folgerung daraus: Eine grundlegende Neuordnung muss her. Aber was für eine? Hier verglimmt die Einmütigkeit.

Die Idee der nachgelagerten Besteuerung

Unterschiedliches haben dazu gerade auch Fachleute wie Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler sowie Steuerjuristen vorgetragen, darunter so erlauchte Namen wie Klaus Tipke, Manfred Rose, Joachim Lang, Paul Kirchhof, der Sachverständigenrat. Aber ein anderer Erlauchter gehört ebenfalls dazu, der Volks- und Betriebswirt Joachim Mitschke, emeritierter Professor der Universität Frankfurt am Main. Heute, am 21. Juni, ist er 75 Jahre alt geworden. Das gibt Anlass, an seinen Vorschlag zur Reform der Einkommensteuer zu erinnern. Mit einem Buch hat er dazu 2004 einen fertigen Entwurf vorgelegt. Der Titel lautet Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts. Das Buch besteht aus dem entworfenem Gesetzestext und dessen Begründung. Grundlage des Reformvorschlags ist die Idee der nachgelagerten Besteuerung und der Konsumbesteuerung.

Das Lebenseinkommen besteuern

Eine wesentliche Neuerung ist diese: Stellt heute die Einkommensteuer auf das jährliche Einkommen ab, wird die neue Steuer auf die Lebenszeit eines jeden Bürgers bezogen. Besteuert wird sein Lebenseinkommen. Allerdings lässt sich das Lebenseinkommens eines Bürgers erst dann feststellen, wenn er gestorben ist. Da der Staat aber laufende Steuereinnahmen braucht bedient sich das Besteuerungsverfahren der einfachen Tatsache, dass jeder Bürger sein Einkommen im Lauf seines Lebens immer nur für zweierlei ausgeben kann: entweder für den Konsum oder für die Ansammlung von Vermögen.

Konsumtiv und investiv verwendetes Einkommen steuerlich trennen

Daher ist die ebenso einfache Idee, der laufenden Besteuerung nur die konsumtiven Teile des Einkommens zu unterwerfen und das angesammelte Vermögen, also die investiven Teile, erst nach dem Lebensende zu besteuern – aber mit dem gleichen Steuersatz und bewertet zu Marktpreisen. Die Besteuerung der investiven Teile ist also nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Die neue Einkommenssteuer setzt sich also aus einer Konsumsteuer und einer Vermögenszuwachssteuer zusammen. Die erste wird zu Lebzeiten erhoben, die zweite nach dem Tod. Der Staat soll investiertes und re-investiertes Einkommen so lange unbesteuert lassen, bis es verbraucht, verschenkt oder vererbt wird. Zu Lebzeiten eines Steuerpflichtigen muss dieser nur die privat verbrauchten Teile seines Einkommens der Steuer unterwerfen. Der bis dahin nicht besteuerte Rest unterfällt der Steuer erst dann, wenn der Steuerpflichtige verblichen ist.

Das für verwendete Vermögensbildung Einkommen bleibt zunächst steuerfrei

Wie bisher jedoch ist das Einkommen durch Addition der Einnahmen aus den verschiedenen Einkunftsarten zu ermitteln, weil sich der Konsum nicht unmittelbar erfassen lässt. Von diesem Einkommen wird (außer den sogenannten Werbungskosten) derjenige Betrag abgezogen, den der Bürger für seine Vermögensbildung ausgegeben hat. Der verbleibende Rest gilt als Konsum, und nur er wird besteuert. Dabei können Löhne und Gehälter – wie bisher – zunächst der Lohnsteuer und Kapitalerträge zunächst der Zinsabschlagsteuer unterliegen.

Der Konzeptkern: Wachstum und Eigenkapital stärken

Der Kerngedanke des Konzepts: Wachstum und Wohlstand in einem Staat entstehen im wesentlichen durch die Unternehmen. Sie sind es, die die benötigten produktiven Arbeitsplätze schaffen. Sie sind die unmittelbare und mittelbare Quelle, aus der ein Steueraufkommen sprudelt. Daher liegt es im allgemeinen öffentlichen Interesse, die Unternehmenserträge so lange von Steuern freizuhalten, wie sie dazu dienen, diese Aufgaben zu erfüllen. Daher zielt die Mitschke-Reform im Schwerpunkt darauf ab, das Wirtschaftswachstum zu kräftigen und das dazu benötigte Eigenkapital zu stärken. Dessen Bildung darf der Staat nicht zur Unzeit behindern. Denn ausreichendes Kapital in den Unternehmen bedeutet: Arbeitsplätze bleiben erhalten, neue entstehen, Lehrlinge werden ausgebildet, Innovationen sind leichter finanzierbar, schwierige Zeiten leichter zu überstehen, die Insolvenzanfälligkeit nimmt ab, die Unternehmen können leichter wachsen.

Alle Rechtsformen und Kapitalanlagen werden steuerlich gleichbehandelt

Die Vorteile sind vor allem diese: Wirtschaftswachstum und Schaffen zusätzlicher Arbeitsplätze werden steuerlich nicht mehr behindert, führen zu Mehreinkommen und damit für den Fiskus tendenziell sogar zu Mehreinnahmen. Unternehmen benötigen nur noch eine Handelsbilanz; das gesamte Bilanzsteuerrecht entfällt. Die neue Besteuerung führt zu einem völligen Systemwechsel. Die direkten Steuern auf Einkommen, Vermögen, Schenkungen und Erbschaften werden zu einer einzigen Steuer zusammengefasst. Die Körperschaftssteuer verschwindet. Steuerliche Erwägungen spielen bei unternehmerischen Entscheidungen keine Rolle mehr, denn alle Rechtsformen, alle Kapitalanlagen, alle Vorsorgeformen werden steuerlich gleichbehandelt. Der Anreiz zu Steuersparmodellen ist dahin. Alle Bestandteile der sozialstaatlichen Umverteilung lassen sich in diese ganz andere Einkommensbesteuerung integrieren und viel einfacher handhaben.

Familien mit Kindern nicht mehr benachteiligt

Die Besteuerung wird vereinfacht, steuerliche Vergünstigungen zum Ausgleich von Ungerechtigkeiten werden entbehrlich. Dadurch hat die neue Steuer eine breitere Bemessungsgrundlage als heute und kann (ohne Einbußen für den Fiskus) mit deutlich niedrigeren Steuersätzen auskommen. Für die Haushaltsneutralität würde nach Mitschkes damaliger Rechnung ein Höchststeuersatz von 30 Prozent genügen. Mitschkes Entwurf befreit das Einkommensteuerrecht von seiner Überfrachtung mit politischen Lenkungswünschen, beseitigt seine beschäftigungs- und investitionsfeindliche Wirkung, benachteiligt nicht mehr Familien mit Kindern, sondern fördert sie, besteuert die Unternehmen rechtsformneutral, macht die Einkommensbesteuerung durchschaubar und praktikabel, senkt die Steuersätze und erhöht auch damit die fiskalische Ergiebigkeit. Überdies stellt der Entwurf die Gleichmäßigkeit der Besteuerung her, was bisher nicht der Fall ist.

Aber zugreifen auf das Konzept will der Gesetzgeber noch immer nicht

Neu ist das Konzept nicht, aber Mitschke hat es wohl am ausgiebigsten gedanklich durchdrungen und es in Form eines Gesetzentwurfes ausgearbeitet. Auch steht er mit seinem Reformvorschlag nicht allein. Sein namhafter Kollege, der Finanzwissenschaftler Joachim Lang, hat ebenfalls dafür plädiert, die Besteuerung des Einkommens konsumorientiert auszugestalten und die Zukunftsvorsorge nachgelagert zu besteuern. Lang stand der „Kommission Steuergesetzbuch” der Stiftung Marktwirtschaft vor, die ihren (allerdings anderen) Reformvorschlag 2008 vorgelegt hat. Doch beim Gesetzgeber durchgesetzt hat sich weder dieses noch das Konzept von Mitschke bisher nicht. Schwierigkeiten bestehen beim Mitschke-Konzept u.a. noch im grenzüberschreitenden Verkehr und mit Vorgaben der Europäischen Union. Sie müssten sich überwinden lassen. Doch zugreifen auf das Konzept will der Gesetzgeber noch immer nicht. 1993 hat die FDP die Idee der konsumorientierten Einkommensbesteuerung schon einmal aufgegriffen. Sie lief damals unter dem gar nicht so schlechten Namen “Bürgersteuer”, ist aber wieder in der Versenkung verschwunden.

Das Haupt- und Nebenziel von Mitschkes-Reformvorschlag

Vor seiner akademischen Laufbahn hat Mitschke mehrere Jahre (1958 bis 1965) als Beamter in der bayrischen Finanzverwaltung gearbeitet, sich dann aus diesem Beamtenverhältnis gelöst und war von 1966 bis 1967 Leiter der Organisation und Systemanalyse bei der Dillinger Hütte. Anschließend holte er das Abitur nach, da ist er schon 31 gewesen. Dann studierte er Wirtschaftswissenschaften an der Universität Saarbrücken (von 1968 bis 1971) und erhielt 1975 die Professur für Volks- und Betriebswirtschaftliches Rechnungswesen an der Universität Frankfurt am Main. Das Hauptziel seines Reformvorschlags ist für Mitschke nicht das Senken des Steuersatzes und das Vereinfachen der Besteuerung, sondern das Wirtschaftswachstum in Schwung zu bringen (oder zu halten) und damit die Arbeitslosigkeit zu verringern. Geringere Steuerbelastung und vereinfachte Besteuerung sind zwar ebenfalls gewollt, aber hier gleichsam ein Nebenziel.

Was Schafschur und Besteuerung gemeinsam haben

Von Friedrich dem Großen stammt der Satz „Die große Kunst besteht darin, die Steuern zu erheben, ohne die Staatsbürger zu bedrücken.“ Das sollte heute in der Demokratie erst recht gelten. Oder anders formuliert: Schafschur und Besteuerung haben eines gemeinsam: Sobald die Haut erreicht ist, sollte man lieber aufhören. Aber der deutsche Gesetzgeber der zurückliegenden fünfzig, sechzig Jahre hat sich bei der Einkommensbesteuerung nicht sonderlich daran gehalten – weder bei der Belastungshöhe dieser Steuer, noch bei der Art und Weise, wie er diese Steuer erhebt. Beides nämlich geht längst und ganz schön unter die Haut – und zwar nicht nur den Bürgern, die sich mit dem Regelungsdschungel, den Steuerformularen und den Finanzbehörden herumschlagen müssen, nicht nur dem Bund der Steuerzahler, nicht nur den Steuerberatern und ihren Verbänden, sondern auch den Finanzbeamten und ihren Ämtern selbst, den Finanzgerichten, dem Bundesfinanzhof und schon lange den Ökonomen und Steuerrechtswissenschaftlern.

Der Traum von einer neutralen Besteuerung

Ein Wunschtraum der Wissenschaftler ist, dass Steuern neutral sein sollen. Neutral wäre eine Steuer – oder besser noch: das ganze Steuersystem – dann, wenn die Bürger ihre wirtschaftlichen Entscheidungen unabhängig davon träfen, ob es die Steuer (oder das betreffende Steuersystem) gibt oder nicht. Heute dagegen entscheiden sie ganz anders, weil die unterschiedlichen Wirkungen der Steuern sie dazu veranlassen. Sie versuchen, den Steuern auszuweichen und geben ihr Geld so aus oder legen es so an, dass sich die Steuerbelastung verringert oder dass sie ganz entfällt. Sie lenken ihr Geld also nicht oder nur teilweise dorthin, wo es gesamtwirtschaftlich nützlicher angelegt wäre. Wer kann, entzieht sich der als zu hoch empfundenen Steuerbelastung – auch durch Steuerhinterziehung oder durch Steuerflucht ins Ausland.

Aber bisher kein Wunschgegenstand

Allerdings setzt eine Besteuerung, die neutral sein soll, voraus, dass der Staat mit seinen Steuern nur fiskalische Zwecke verfolgt, also für seine Aufgaben nur Geld eintreiben will, nicht aber mit den Steuern auch lenken will, also die Bürger zu bestimmten Verhaltensweisen bewegen oder zwingen will. Doch zu einer solchen Enthaltsamkeit ist eine Reihe einflussreicher Interessengruppen, sind die politischen Parteien, ist die politische Führung durchweg nicht bereit. Die Bürger verlangen ihnen die ja auch gar nicht ab, wissen wohl auch gar nicht, was neutrale Besteuerung ist und bedeutet. Wunschgegenstand jedenfalls ist sie bisher nicht.

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