Vertreibungs- und Enteignungsunrecht nach dem 2. Weltkrieg

Es geht noch immer darum, es rechtsstaatlich aufzuarbeiten

„Wo staatliches Unrecht wütete, kann und darf der Rechtsstaat die Opfer und ihre Angehörigen mit den Folgen nicht allein lassen.“ Ein Satz wie in Erz gehauen. Formuliert hat ihn der Rechtswissenschaftler Hans-Detlef Horn, Universität Marburg. Der Satz schwebte wie ein Motto, wie ein Konzentrat über das, was Gegenstand einer Tagung am 25. und 26. Oktober in Bad Pyrmont war und den Titel trug „Eigentumsrecht und Enteignungsunrecht – Analysen und Beiträge zur Vergangenheitsbewältigung“. Veranstaltet haben diese staats- und völkerrechtliche Fachtagung die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen und die Landsmannschaft Ostpreußen in Verbindung mit der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht. Es ging darum, die Folgen des nach dem Zweiten Weltkrieg geschehenen Vertreibungs- und Vermögensunrechts rechtsstaatlich aufzuarbeiten. Es war die dritte Veranstaltung dieser Art, die beiden anderen hatten 2006 und 2008 stattgefunden.

Bagatellisieren setzt unheilvolle Maßstäbe

Für den demokratischen Rechtsstaat gelte, wie Horn einleitend sagte, das Verbot des Vergessens, wo vergangenes Unrecht zukünftiges Recht beeinträchtigen könne. In der Tat, eine Gesellschaft, die sich weigert, die (von wem auch immer begangenen) Rechtsverstöße der Vergangenheit zu unterdrücken, zu bagatellisieren oder auch gar nicht anzuerkennen und eine Wiedergutmachung zu verweigern, setzt unheilvolle Maßstäbe für das Rechtsgefühl, die Rechtsauffassung, das Rechtsverständnis und die Rechtsanwendung, nämlich mit dem Blick auf Ereignisse, die erst noch bevorstehen. Der Staat, der Unrecht fortbestehen lässt, also das Recht missachtet, es nicht verteidigt und es allein schon deshalb verletzt, rutscht ab in eine Haltung, das Recht auf schleichende Weise aufzuweichen und zu erschüttern. Schlimme Beispiele verderben die Sitten – das gilt auch und gerade für das Rechtsverständnis.

Ein Anspruch an Regierung, Gesetzgeber, Verwaltung und Gerichte

Wie Horn feststellte, ist eine allseitig akzeptierte Wiedergutmachung von Kriegsfolgenunrecht 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, 50 Jahre nach dem Beginn der europäischern Integration, 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung sowie nach dem Deutsch-Polnischen und dem Deutsch-Tschechischen Nachbarschaftsvertrag noch immer nicht zur Gänze gelungen. Eine effektive, gerechte und nicht-diskriminierende Wiedergutmachungspolitik – ob durch Rückgabe konfiszierter Vermögenswerte, durch angemessene Entschädigung oder durch personenbezogene Rehabilitierung – sei für ein rechtsstaatliches demokratisches Gemeinwesen ein maßgebliches Kriterium. Der Anspruch richte sich zuerst an Regierung und Gesetzgeber, aber im Rahmen der Gesetze ebenso an Verwaltung und Gerichte.

Die Pflicht des Rechtsstaats

Horn wörtlich: „Der demokratische Rechtsstaat kann sich gegenüber seinen Bürgern nicht darauf zurückziehen, dass nicht er, sondern eine fremde Staatsmacht der Täter gewesen war. Auch das Völkerrecht kennt mittlerweile die Verantwortlichkeit eines jeden Staates, schwerwiegende Rechtsverletzungen nicht nur nicht anzuerkennen, sondern aktiv für die Beendigung und Beseitigung der durch sie entstandenen Zustände zu sorgen.“

Täter heute ist auch der deutsche Staat

Allerdings, im Fall von schwerem Unrecht gegenüber Deutschen ist Täter nicht nur eine fremde Staatsmacht gewesen (wie die einstige Sowjetunion oder die einstige DDR), sondern auch der heutige deutsche Staat. Denn nach wie vor verweigern seine Politiker, Ämter und Gerichte den unschuldigen Opfern politischer Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) 1945 bis 1949 seit der deutschen Einheit von 1990 die zwingende Rehabilitierung und Wiedergutmachung. Bis heute werden diese Opfer politisch und amtlich nur so wahrgenommen, als seien sie durch die damalige „Boden- und Wirtschaftsreform“ bloß enteignet worden. Dass diese Wahrnehmung falsch und sogar eine absichtsvolle Irreführung und Täuschung ist, hat auf der Tagung eindrucksvoll der Rechtsanwalt Johannes Wasmuth aus München in seinem rechtswissenschaftlichen Vortrag belegt.

Die „Boden- und Wirtschaftsreform“ war politischer Klassenkampf

Wasmuth wies nach, dass diese sogenannte Reform in Wahrheit ein politischer und brutaler repressiver Klassenkampf mittels inszenierter Strafverfahren war, um den „Klassenfeind“ zu vernichten, also die gesamte großbürgerliche, gewerblich-unternehmerische und industrielle Bevölkerungsschicht. Das schlimmste Unrecht sei nicht in der DDR, sondern vor der DDR-Gründung in der SBZ verübt worden. – in der auf deutschem Boden „brutalsten Phase des Kommunismus/Leninismus“. Es ist zugleich die Zeit der Entnazifizierung gewesen, die damals auch im Deutschland der drei westlichen Besatzungsmächte stattfand, aber in der SBZ wurde sie zugleich zur politischen Säuberung von jener großbürgerlichen Klasse und zu deren Vernichtung genutzt und missbraucht. Es war dort nach Wasmuths Worten „auch eine Massenvertreibung auf deutschem Boden“.

Was Politiker, Ämter und Gerichte verschleiern

Dieser Verfolgungs- und Strafcharakter der vorgeblichen Boden- und Wirtschaftsreform, so Wasmuth, werde durch Politiker, Ämter und Gerichte seit 1990 verschleiert. Dem 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts mit dessen einschlägigen Urteilen zu verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsverfahren warf er Rechtsbeugung vor, weil dieser Senat die klare Tatsachen- und Rechtslage nicht beachte. Da sich die unteren Gerichte und Ämter an diesen Urteilen ausrichten, versagt die Aufarbeitung dieses Verfolgungsunrechts, wie Wasmuth sagte, „flächendeckend“.

Rehabilitierungs- und Rückgabeanspruch sind gesetzlich verankert

Wasmuth erläuterte die Systematik der gesetzlichen Regelungen für die Wiedergutmachung von Unrecht in der SBZ und in der DDR anhand der Gemeinsamen Erklärung, des Vertrages zur deutschen Einheit, des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen, des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes sowie des verwaltungs- und des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (Siehe hierzu des Näheren meinen Beitrag auf dieser Blog-Seite „Wie deutsche Richter gegen Gesetze verstoßen“ vom 15. Dezember 2008). Danach haben die Opfer der SBZ-Zeit nach wie vor einen strafrechtlichen Rehabilitierungsanspruch, der zur Rückgabe der entzogenen Vermögenswerte führt, wenn sie noch in Staatshand sind, oder (als Entschädigung) zur Erlösauskehr, wenn der Staat sie (wie meistens) schon verkauft hat.

Individueller oder pauschaler Strafvorwurf bei der Verfolgung

Wasmuths Darlegungen bestätigt hat der Jurist Albrecht Graf von Schlieffen, allerdings mit einer Abweichung: Nach Schlieffen ist für die Verfolgungsopfer der „Bodenreform“ nicht das strafrechtliche, sondern das verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz einschlägig. Er sieht die Trennlinie darin, ob die damaligen Täter gegen ihre Opfer mit einem individuellen oder mit einem pauschalen Vorwurf vorgegangen sind. Denn die Opfer der „Bodenreform“ seien unabhängig von tatsächlicher persönlicher Schuld oder Unschuld immer dann pauschal als „Nazi-Aktivisten“ und Kriegsverbrecher“ vertrieben und enteignet worden, wenn sie 100 Hektar und mehr besaßen. Selbst nichtadlige Landwirte mit Betrieben von 100 Hektar und mehr wurden von den Kommunisten unter die „Junker“ subsumiert. Aber wie für Wasmuth hat diese politische Verfolgung auch für Schlieffen Strafcharakter, nur eben einen pauschalen. Hierfür sehe die Systematik der gesetzlichen Regelungen vor, dass die Wiedergutmachung nach dem verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz stattzufinden habe.

„Der Kult der eigenen Schuld“

Ganz anders als Wasmuth und Schlieffen hatte zuvor der Rechtswissenschaftler Otto Depenheuer, Universität Köln, die Ansicht vertreten: „Die Geschichte der Enteignungen von 1945 bis 1949 ist zwar keine gute, aber die Juristenschlachten sind geschlagen.“ Die Aufarbeitung des Unrechts sei keine juristische Aufgabe, sondern eine politische, auch eine rechtspolitische. Aber auch Depenheuer bekundete, dass „die noch immer bestehende Wunde der Konfiskationen“ zu schließen sei. „Das Unrecht bleibt ja Unrecht, es will anerkannt, will kompensiert sein.“ Vergessen gehe nicht, man müsse sich dem Unrecht stellen. „Was ein Rechtsstaat selbst nicht tun darf, das darf er auch nicht dulden.“ Der Kult der eigenen Schuld in Deutschland habe das an Deutschland verübte Unrecht überlagert.

Noch bestehende Probleme mit Polen und Tschechien

Andere Vorträge der Tagung befassten sich mit dem Völkerrecht der Staatenverantwortlichkeit als Rechtsquelle effektiver Restitutions- und Rehabilitierungspolitik (Hans-Peter Folz, Augsburg), mit Ansprüchen zur Eigentumsrückgabe und den Rückgaberegeln zum begünstigten Flächenerwerb (Albrecht Wendenburg, Celle) und mit dem Entschädigungs- und Ausgleichleistungsrecht in der Vollzugspraxis (Hermann-Josef Rodenbach, Berlin). Ferner ging es um den Stand und die Aussichten der staatlichen Wiedergutmachungspolitik in Tschechien und Polen. Da beide Länder inzwischen zur EU gehören, besteht, wie Horn sagte, auch für die nach 1945 aus dem Sudetenland und den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie vertriebenen Deutschen wieder die Freiheit, sich in der alten Heimat niederzulassen und dort einer wirtschaftlichen Betätigung nachzugehen – eine Freiheit, die zwar unionsrechtliche Selbstverständlichkeit sei, aber durchaus auch als Korrektur perpetuierter Unrechtslagen begriffen werden könne. Das einzige noch verbliebene Problemfeld sei eine diskriminierungsfreie, die alten Staatsdekrete überwindende Regelung von Eigentumsrestitution oder Enteignungsentschädigung. Zur Lage und den Schranken in Tschechien berichtete der Rechtswissenschaftler Jan Filip aus Brünn und über die Wiedergutmachung durch Restitution im deutsch-polnischen Verhältnis Andrzej Wróbel, Richter am Obersten Gericht in Warschau.

60 Jahre Charta der Heimatvertriebenen von 1950

Zum Tagungsbeginn hatte Hans-Günther Parplies, Vorsitzender der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, an die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ von 1950 erinnert. Beim Festakt zum 60. Jahrestag der Charta am 5. August in Stuttgart hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert die Charta in seiner Festansprache gewürdigt. Aber kritisch merkte Parplies an:

„Nicht unterdrücken, was historische Fakten sind“

„Den Vertriebenen freilich hat es wehgetan, sich mit den heutigen Integrationsproblemen von Türken und Arabern in unserem Land verglichen zu sehen. Schließlich kamen die Ostdeutschen nicht aus fernen fremden Kulturkreisen, sondern aus dem eigenen Volk, und sie waren auch durchaus der deutschen Sprache mächtig. Die Kommentare waren denn auch durch die ganze Breite der Vertriebenenpresse von „gedankenlos“ über „instinktlos“ bis „herzlos“. Und die Ostdeutschen wurden auch nicht nur aus „Siedlungsgebieten“ vertrieben, sondern in ihrer Mehrzahl aus deutschem Staatsgebiet. Warum kann man das – als historisches Faktum – nicht wahrheitsgemäß so benennen? Man scheut sich, es wahrheitsgemäß zu benennen, weil man auf die Folgerungen daraus keine Antwort hat, jedenfalls keine befriedigende. Man scheut sich, es zu benennen, weil man sonst einräumen müsste, dass es da noch offene Fragen gibt, offene Gerechtigkeitsfragen, ja offene Menschenrechtsfragen.“

Ein noch immer nicht verwirklichtes Ziel

Ein wesentliches Ziel der Charta, so Parplies weiter, sei es, eine europäische Friedensordnung zu errichten, in der das Recht auf die Heimat auch der Vertriebenen angemessene Berücksichtigung finde und in der die millionenfache schwerste Verletzung ihrer Menschenrechte Heilung erfahre. Dieses Ziel der Charta sei auch nach 60 Jahren noch immer nicht verwirklicht. Der Verzicht auf Gewalt als Mittel zur Durchsetzung des Rechtes erfordere zum Ausgleich aber notwendig eine Ordnung, die das Recht ohne Anwendung von Gewalt auch durchsetze. Von der Forderung der Charta, dass bei der Einigung Europas das Recht auf die Heimat anerkannt und verwirklicht werde, sei in vielen der Gedenkreden und Artikel zu ihrem 60. Jahrestag erschreckend wenig die Rede gewesen. Dies deswegen, weil man darauf keine wohlfeile Antwort wisse, oder weil man, wenn man das Recht auf die Heimat erwähne, einräumen müsste, dass es da noch offene Fragen, noch offene Menschenrechtsfragen gebe. Und das werde lieber ausgeblendet.

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