Stückwerk Erinnerung

Gestörte Wahrnehmung, unvollständige Tatsachen, einseitiges Gedenken – Zwei Bürger mahnen – Eine Nachlese zum Gauck-Besuch in Griechenland

Als Bundespräsident Joachim Gauck jüngst auf Staatsbesuch in Griechenland weilte, hat er auch das Dorf Ligiades in Nordwestgriechenland (Epirus) besucht. Warum dieses Dorf? Hier gibt es eine Gedenkstätte zu einem Massaker im Zweiten Weltkrieg. Die FAZ*) schrieb: „In Ligiades töteten deutsche Soldaten im Oktober 1943 in einer ‚Vergeltungsaktion’ mehr als 90 Zivilisten.“ Gauck hat an der Gedenkstätte eine Rede gehalten und einen Kranz niedergelegt. In dem gleichen Beitrag zu Gaucks Besuch (Überschrift: „Verbunden im Guten wie im Bösen“) erinnerte die FAZ an ein anderes Massaker, an das in Kalavryta und schrieb: „Die Beziehung zwischen Deutschland und Griechenland ist vielleicht an keinem anderen Ort so mit Händen zu greifen wie in Kalavryta auf der Peleponnes. Hier massakrierten Wehrmachtssoldaten tausend Griechen. … Kalavryta steht in Griechenland synonym für deutsche Kriegsverbrechen, so wie Oradour-sur-Glane in Frankreich.“ Aber zugetragen hat sich das schlimme Geschehen anders, denn die sehr wesentliche, aber nicht ebenfalls geschilderte Vorgeschichte gehört dazu.

Das vollständige Geschehen 1943 in Kalavryta

An sie erinnert haben als kritische Beobachter des politischen Geschehens Lutz Radtke und Rainer Gladisch aus Bad König und Lindenfels („Initiative Deutschland jetzt „). Sie beklagten: „Man hätte dieser Zeitung eine bessere Recherche zugetraut.“ Die Wahrheit sehe ganz anders aus. Radtke ist über viele Jahre Vorstandsmitglied der Pirelli Reifen AG gewesen, Gladisch Professor für Innere Medizin. Heute äußern sie sich zu vielen politischen Ereignissen und Entwicklungen als kritischer Pensionäre und Mahner. Zu Kalavryta (auch Kalavrita) beschreiben sie den Hergang so:

Deutsche Soldaten von Partisanen eingeschlossen

„Griechenland 1943. Rückzug der deutschen Wehrmacht. Es gab nur noch schwache deutsche Stützpunkte in Griechenland, einen davon bei dem Dorf Kalavrita, besetzt mit 85 deutschen Soldaten. In einer Oktobernacht kamen griechische Partisanen der kommunistischen „Volksbefreiungsarmee ELAS“ in überlegener Stärke und schlossen den deutschen Stützpunkt vollständig ein. Eine Verbindung zur „Außenwelt“ gab es für die Deutschen nicht – die Telefonverbindung hatten die Partisanen unterbrochen, Melder hatten keine Chance durchzukommen, die Funkverbindung funktionierte in der Gebirgslandschaft nicht. Was tun?

Der vertraglich vereinbarte freie Abzug

Zu ernsthaften Kämpfen kam es nicht. Die Partisanen boten Verhandlungen an: Ihr Deutschen übergebt uns den Stützpunkt kampflos und Eure Waffen dazu. Dafür garantieren wir Euch freien Abzug! Das wurde akzeptiert und sogar schriftlich – auf Griechisch und Deutsch in doppelter Ausfertigung – fixiert. Jeder Vertragspartner erhielt ein Exemplar. Die Deutschen verließen den Stützpunkt in geordneter Formation.

Vertrag zerrissen, die Deutschen entkleidet, gefesselt, erschossen, in die Schlucht gestürzt

Doch kaum hatten sie ihn verlassen, wurden sie von den Partisanen umringt und in den Ort Kalavrita getrieben. Dem deutschen Offizier wurde sein Vertragsexemplar entrissen, bespuckt und zerrissen vor die Füße geworfen. Die Ausplünderung und Entkleidung der Soldaten begann. Sie wurden zu mehreren aneinander gefesselt und an den Rand einer steil abfallenden Schlucht getrieben. Sie stürzten rücklings den Steilhang hinunter. Wer sich noch rührte, wurde von oben erschossen. Insgesamt wurden 81 deutsche Soldaten erschossen, drei Verwundete sollen zu einem Brunnen geschleppt und hineingeworfen worden sein, wo sie ertranken. Die Soldaten überlebten, z.T. mit Hilfe von Einwohnern.

Die im Krieg übliche Vergeltung durch die 117. deutsche Jägerdivision

Auf diesen Massenmord reagierte die 117. Jägerdivision. Sie nahm die männlichen Einwohner Kalavritas als Geiseln und erschoss am 13. Dezember 1943 511 Personen. Das war Kriegsrecht – eine Vergeltung, wie sie alle Armeen der Welt jederzeit angewendet haben.“**)

Das damalige Kriegsgeschehen

Im „Wendig“ (siehe **) eingeleitet ist das Geschehen mit dieser Vorbemerkung zum damaligen Hintergrund: „Als Italien nach der Eroberung Albaniens 1940 auch Griechenland angegriffen hatte, musste es die Deutschen zu Hilfe holen, die dann das Land besetzten, es aber anschließend im wesentlichen deutschen Truppen überließen. Auch nach dem Frontenwechsel der Italiener im September 1943 und dem Abzug ihrer Truppen befanden sich nur schwache deutschen Einheiten in einigen Stützpunkten auf dem Peloponnes, auf dem ab Herbst 1943 die Überfälle der kommunistischen ‚Volksbefreiungsarmee ELAS’ zunahmen. Ein solcher deutscher Stützpunkt befand sich bei dem Dorf Kalavrita mit damals rund 85 deutschen Soldaten.“

Das Ermorden der deutschen Soldaten war ein Kriegsverbrechen

War die Vergeltung durch die Deutschen wirklich rechtens? Im „Wendig“ heißt es dazu: Eine objektive und rechtliche Beurteilung der Vorgänge in Kalavrita ergibt folgendes: Die griechischen Partisanen hatten ein Kriegsverbrechen begangen. Es ist schon ein Verstoß gegen das Völkerrecht, wenn Freischärler reguläre Besatzungstruppen angreifen. Wenn sie dann noch viele gefangene Soldaten – dazu unter offensichtlichem Vertragsbruch – ermorden, ist das eindeutig ein Kriegsverbrechen. Sühnemaßnahmen sind für einen solchen Fall – und zur weiteren Abschreckung – vom Völkerrecht erlaubt und gedeckt. Ein schwerer Bruch des Völkerrechts, wie hier durch die Partisanen, muss nun einmal hart gesühnt werden, wenn die Rechtsordnung erhalten bleiben soll.“

Bochumer Gericht 1972: Die deutsche Vergeltung war völkerrechtlich zulässig

Der Text im „Wendig“ weiter: „Dass die deutschen Truppen nach den beschriebenen Vorfällen rechtmäßig handelten, befand auch ein Bochumer Gericht, das sich im Jahre 1972 mit dem Fall Kalavrita befassen musste und über beteiligte Deutsche zu urteilen hatte. Das Gericht stellte nach Kenntnisnahme das Verfahren ein, wobei es in der Begründung ausdrücklich hieß: ‚In dieser Situation waren Repressalien notwendig und zulässige völkerrechtliche Mittel.“ (Seite 84)

Johannes Rau bekümmerte der wahre Hergang bei seinem Kalavryta-Besuch nicht

Am 4. April 2000 hat der damalige deutsche Bundespräsident Johannes Rau Kalavryta im Nord-Peloponnes besucht und am Mahnmal dort einen Kranz niedergelegt. Den wahren Hergang erwähnte er nicht. Er hat ihn auch nicht berücksichtigt, sondern sprach nur von Greueln und Verwüstungen durch deutsche Soldaten. Im „Wendig“ heißt es dazu, angesichts der Tatsachen sei es unverständlich und skandalös, „dass der Bundespräsident nur den Deutschen die Schuld gab und dafür um Vergebung bat, dass er bei seinem Besuch in Kalavrita die Gräber der 81 ermordeten Deutschen nicht aufsuchte und diese Opfer nicht ehrte, dass er den Deutschen ‚Rache’ unterstellte und nicht auf das Völkerrecht verwies, dass die allgemeine deutsche Presse in ähnlicher Weise verfuhr und dabei die kommunistischen ELAS-Partisanen, die später einen jahrelangen blutigen Bürgerkrieg verursachten und gegen die die Alliierten Truppen einsetzen mussten, als ‚Freiheitskämpfer’ verherrlichte“.

Gauck beschwor nur die deutsche Schuld – wie schon zuvor in Oradour

Diesmal nun war als Bundespräsident Gauck in Griechenland. Auch er beschwor wieder einmal nur die deutsche Schuld und bat wieder einmal um Vergebung. Radtke und Gladisch werfen ihm das vor. Daher schrieben Sie ihm und machten den Brief öffentlich. Sie erinnerten ihn an die vollständigen Vorgänge. Dazu gehört auch der Fall Oradour-sur-Glane in Frankreich. Diesen 1944 zerstörten Ort hat Gauck 2013 besucht, am 4. September. Dort habe er das gleiche Schuldbekenntnis zelebriert nach dem politisch-korrekten Motto ‚Deutsche Schuld – gestern, heute, morgen und in alle Ewigkeit?’ „Historische Fakten bei ihm? Fehlanzeige!“ Die Fakten zu Oradour sind im „Wendig“ Band 2, Seite 86 bis 92 nachzulesen.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident …

Radtke und Gladisch schrieben: „Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Deutschland ist in einer schwierigen Situation – Vieles stimmt einfach nicht mehr in unserem Lande. Wir haben keinen Grund, mit dem Verhalten unserer politischen „Eliten“ einverstanden zu sein. Eine wichtige Rolle spielen dabei Sie, unser Bundespräsident, und eben auch Ihre Auslandsreisen. Wie wir als Bürger sie erleben – darüber haben wir in der beiliegenden Schrift unsere Argumentation freimütig dargelegt. Wir wissen nicht, ob Sie persönlich mit diesen Gedanken bekannt werden können, weil – wie die Erfahrung lehrt – Bürgerbriefe an Sie in der Regel ohne Antwort bleiben. Wir haben nicht zuletzt deshalb diesen Text auch breit in der Internet-Gemeinde gestreut.“ Der ganze Text der beigelegten Schrift hier.

Sich entschuldigen ja, Fakten verbiegen nein

Es geht nicht darum, dass sich Bundespräsidenten und andere deutsche Politiker nicht im Namen Deutschlands für kriegsbedingte Greueltaten entschuldigen dürfen. Das mögen sie tun. Denn an Greueltaten erinnern geschieht in der ehrenwerten und dringlichen Hoffnung, dass derartiges nicht wieder und wieder geschieht. Das Erinnern ist daher notwendig. Aber sie dürfen dabei nicht die Fakten verbiegen und einseitig nur die Deutschen mit Schuld beladen.

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*) FAZ vom 7. März 2014, Seite 3.

**) Diesen Hergang haben Radtke und Fischer im Wesentlichen dem vierbändigen Geschichtswerk „Der Große Wendig- Richtigstellungen zur Zeitgeschichte“ entnommen, herausgegeben von Rolf Kosiek und Olaf Rose, 2. Auflage, erschienen im Grabert-Verlag, Tübingen 2006. Hier Band 2, Seite 82 bis 85. Die vier Bände sind eine Veröffentlichung des Instituts für deutsche Nachkriegsgeschichte.

In Wikipedia (hier) ist der Hergang so geschildert: „Während der deutschen Besetzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg kam es Mitte Oktober 1943 zur Gefangennahme von rund 80 deutschen Soldaten durch Partisanen der Griechischen Volksbefreiungsarmee ELAS. Die Partisanen hatten im Raum Kalavryta eine starke Position, obwohl die überwiegend konservativ eingestellte Bevölkerung ihnen gegenüber als distanziert galt. Es ist aus den zahlreich vorhandenen Dokumenten der Wehrmacht nicht feststellbar, ob die Forderung der Partisanen nach Austausch der gefangenen Soldaten gegen in deutscher Hand befindliche griechische Geiseln ernsthaft erwogen wurde. Ende November war der Befehl für das „Unternehmen Kalavrita“ (Vernichtung der „Banden“ – meint: Partisanen – und eine Vergeltungsaktion) schon ergangen. Die folgenden vermehrten Truppenbewegungen in das Gebiet von Kalavryta konnten den Partisanen nicht entgangen sein. Am 7. Dezember, rund zwei Monate nach der Gefangennahme, wurden die deutschen Soldaten getötet und am 8. Dezember von den Besatzern aufgefunden.

Daraufhin erging der Befehl zur „schärfsten Form der Sühnemaßnahmen“. Die unter dem Kommando des Generalmajors Karl von Le Suire stehende 117. Jäger-Division begann am folgenden Tag, dem 9. Dezember, mit der Zerstörung von Kalavryta und 25 Dörfern. Auch das oben genannte Nationalheiligtum Kloster Agía Lávra wurde völlig zerstört (was die Empörung der Griechen noch steigerte und bis heute nachwirkt). Am 13. Dezember wurden alle Dorfbewohner zur Schule befohlen. Alle Frauen und Mädchen des Ortes sowie alle Jungen unter zwölf Jahren wurden im Schulgebäude eingeschlossen, dann wurde das Gebäude in Brand gesetzt. Der Legende nach soll ein österreichischer oder deutscher Soldat die Tür der bereits lichterloh brennenden Schule wieder geöffnet haben, um den Eingeschlossenen die Flucht zu ermöglichen. Alle Männer wurden oberhalb des Ortes geführt und dort mit Maschinengewehrfeuer hingerichtet. 13 Männer überlebten das Massaker, weil sie von den Deutschen für tot gehalten wurden. Der Ort wurde in Schutt und Asche gelegt.

Zitate aus der unten genannten in allen Einzelheiten vor Ort und wissenschaftlich recherchierten Publikation von E. Rondholz: „Kampfgruppenführer Ebersberger meldete 674 Erschossene. In der Abschlussmeldung an das General-Kommando des LXVIII. Armeekorps ist von 695 erschossenen Griechen im Verlauf des gesamten ‚Unternehmens Kalavryta‘ die Rede. (..) die Griechen gehen ihrerseits bis heute von einer wesentlich höheren Zahl von Toten aus.“ (S. 144).

Der mit der Wehrmacht kollaborierende griechische Ministerpräsident Ioannis Rallis schrieb in einem im Ton devoten Brief an den Militärbefehlshaber Griechenlands, General Wilhelm Speidel, sechs Tage nach dem Massaker: „Gestern erhielt ich Nachrichten, nach denen fast die gesamte männliche Bevölkerung der Stadt Kalavryta Massenhinrichtungen (…) zum Opfer fielen. Wenn meine Informationen richtig sind, betrugen die Opfer der Massenhinrichtung mehr als 650.“ (Rondholz, S. 157.)

Oberhalb des Ortes wurde eine Gedenkstätte errichtet. In hohe Betonwände sind die Namen aller Ermordeten eingegossen. Ein großes weißes Kreuz ist von jeder Position des Tals und des Ortes aus sichtbar. In der Mitte der Anlage befindet sich eine Betonskulptur, die eine trauernde Mutter zeigt. Auf dem Gelände sind mit großen weißen Steinlettern die Inschriften „OXI ΠIA ΠOΛEMOI“ (Nie wieder Krieg) und „ΕΙΡΗΝΗ“ (Frieden) gelegt. Am 4. April 2000[2] besuchte der deutsche Bundespräsident Johannes Rau Kalavryta und legte am Mahnmal einen Kranz nieder.“

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