Damit Deutsch für Deutsche nicht zur Fremdsprache wird
Als ich neulich zuhause in meinen übervollen Bücherregalen Platz für die Neuzugänge suchte und folglich aussortieren wollte, was dort entbehrlich schien, fiel mir auch eine alte Ausgabe von Thomas Manns „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ in die Hände. Was man so tut, wenn man wieder zur Hand nimmt, was man einst gern gelesen hat, und zumal dann, wenn es sich – wie hier – um einen großen Klassiker handelt, den man höchst ungern vom Regal woandershin verbannt, das tat auch ich: Ich habe darin geblättert, ließ hier und da die Augen über ein paar Textstellen streifen und blieb an einer dieser Stellen hängen.
Es war jene, wo Felix Krull eine längere Mußezeit vor sich liegen sieht, weil er darauf warten muss, ob er seinen Militärdienst abzuleisten hat, oder ob er davonkommt und ob er dann gleich nach Paris reisen kann, wo er das Hotelfach lernen soll, was sein Pate Felix Schimmelpreester so fürsorglich-praktisch vorgeschlagen und, ohne mit Widerspruch zu rechnen oder ihn zu dulden, wenn er denn gekommen wäre, in die Wege geleitet hat.
„Dem höheren Jüngling zum stillen Wachstum“
Wir, die wir das Buch kennen, wissen,
Felix Krull kommt davon, er selbst aber weiß es an dieser Stelle noch nicht. Er hängt herum und sinnt darauf, sich die Warte- und Mußezeit, „wie sie“ – so lesen wir – „dem höheren Jüngling zu stillem Wachstum so willkommen, so notwendig ist“, zu vertreiben. Und eben dann folgt jener Satz, über den ich ins Nachsinnen geriet und den ich Ihnen nun nicht vorenthalten will:
„Ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßiggangs“
„Bildung wird nicht in stumpfer Fron und Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßiggangs; man erringt sie nicht, man atmet sie ein; verborgene Werkzeuge sind ihretwegen tätig, ein geheimer Fleiß der Sinne und des Geistes, welcher sich mit scheinbar völliger Tagdieberei gar wohl verträgt, wirbt stündlich um unsere Güter, und man kann wohl sagen, dass sie dem Erwählten im Schlafe anfliegt.“
Nun ja, schön wär’s schon, wenn das mit der Bildung immer so ginge, nämlich dass sie im Schlaf zu haben sei. Aber dass Bildung (zumindest auch) ein „Geschenk der Freiheit ist und des äußeren Müßiggangs“ – wohlgemerkt: nur des äußeren, nicht auch des inneren – ist eine kluge und, wie mir scheint, nach wie vor zutreffende Bemerkung. Freiheit und Muße schaffen den Raum für eine Bildung, die man sich selbst aneignet, zumindest selbst aneignen kann.
Lesefähigkeit macht auch zukunftsfähig
Wir alle wissen: Bildung bedeutet Zukunftsfähigkeit. Sie ist das unerlässliche Fundament eines Staatswesens, einer Gesellschaft, die bestehen bleiben, die weiterkommen will.
Ein wesentlicher Bestandteil der Bildung ist das Lesen, das Lesen-können, die Lesefähigkeit. Richtiger muss man wohl sagen: Es ist der wesentliche Bestandteil. Aber Voraussetzung für die Lesefähigkeit ist die Sprachfähigkeit. Und bereits mit ihr hapert es:
Schon 1992 hat eine Untersuchung ergeben, jedes fünfte deutsche Kind zwischen dreieinhalb und vier Jahren leide unter Sprachschwächen. Die gleiche Untersuchung hat zehn Jahre später, also 2002, festgestellt, die Sprachfähigkeit sei nicht besser, sondern eher noch schlechter geworden. Es gebe zuviele „sprachlose Familien“ mit berufstätigen Eltern. Väter und Mütter kämen zu wenig dazu, mit ihren Kindern zu reden.
Wo Kinder lesen lernen
Aber Lesen lernen Kinder gerade und vor allem zuhause. Ein FAZ-Leser schrieb der Zeitung hierzu: „Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, hat uns die Schule zwar die Fertigkeit beigebracht, wie man Buchstaben, Wörter und Sätze entziffert. Lesen gelernt aber haben wir aus Kinderbüchern, die uns zum Geburtstag oder zu Weihnachten geschenkt wurden. Bei schlechtem Wetter hockten wir in einem stillen Winkel und schmökerten wieder und wieder in unseren Büchern. Etwas älter geworden, waren es Abenteuergeschichten, jugendgerechte Darstellungen aus Natur und Technik, die uns in den Bann zogen… Irgendwann riskierten wir Kinder einen Blick in die lokale Zeitung. Einige Jahre darauf griffen wir auch zu überregionalen Zeitungen, die im Elternhaus auf dem Tisch lagen. Natürliche Neugier war der Antrieb für unseren Lesehunger.“ (Prof. Dr. Wilhelm Schwier am 20. Mai 2003)
In dem Bericht über die zuvor erwähnte Untersuchung findet sich dieser plakative Satz: „Wer nicht richtig sprechen lernt, lernt auch nicht richtig lesen. Er versagt in der Schule und später auch im Beruf.“
So kann bei Deutschen das Deutsche auch selbst zur Fremdsprache werden.
Lesehunger wecken und stillen
Damit dies bitte nicht geschieht, sollte gelesen werden. Vor allem Kinder sollten lesen und vorgelesen bekommen. Lesen und Vorlesen bringt mehr als nur Fernsehen konsumieren. Dafür zu sorgen, ist eine Aufgabe für Eltern und Großeltern, auch für andere Verwandte und für Freunde. Diese Aufgabe besteht in zweierlei: Erst müssen sie den Lesehunger der Kinder wecken, dann ihn stillen. Ideal geeignet dafür ist Weihnachten: Bücher als Geschenk wecken ihn, mit dem Vorlesen oder Selber-Lesen wird er gestillt. Also Bücher schenken. Und dann: Lesen, lesen, lesen. In der Warte- und Mußezeit. Wie bei Tomas Mann’s „Felix Krull.“
Ich wünsche allen meinen Blog-Lesern schöne Weihnachten und genug Muße auch für das Lesen.