Das erschütterte Vertrauen

Im Lichtkegel öffentlicher Kritik: Politiker, Unternehmer, Banker, Gewinnstreben, Marktwirtschaft, Behörden, Gerichte / Auf der Suche nach neuer Orientierung

Unbescholten, ohne Makel, unbestechlich, kurzum: integer zu sein, ist eine für Staat und Gesellschaft wesentliche Tugend. Hapert es damit und geht es mit dieser Tugend schleichend bergab, dann geraten auch die Grundsätze von Recht und Moral, von Anstand und Sitte insgesamt ins Wanken, dann fällt es den Bürgern immer schwerer, sich mit ihrem Staatswesen zu identifizieren und es zu unterstützen. Integrität sichert ein Zusammenleben im gegenseitigen Vertrauen. Doch scheint es nicht mehr gut um sie bestellt. Daher ist die Integrität in Wirtschaft, Politik, öffentlicher Verwaltung und woanders zu einem großen Thema geworden. Die gewaltige Finanzkrise macht es zusätzlich aktuell. Sie hat das Vertrauen in Banken und Banker tief erschüttert.

Aber die Vertrauenserschütterung reicht über die Finanzwelt hinaus. Längst schon angeschlagen ist auch das Vertrauen in Manager großer Unternehmen und damit in „die“ Wirtschaft, in Behörden, in Gerichte, in Medien, in Politiker, sogar in den Sport (Doping). Zahlreiche Skandale, auch individuelle Erfahrungen, haben dazu beigetragen und tun es weiterhin. Es scheint, dass es kaum noch Vorbilder, fast nur noch schlechte Beispiele gibt. Oder nur diese werden in den Medien öffentlich gemacht, weil sie meist – ein altes Dilemma – nur schlechte Nachrichten als Nachricht für gut befinden. Dann entsteht ein schiefes Bild, die Welt erscheint düsterer als sie ist.

Integrität in Staat und Wirtschaft war auch das Thema der 11. Demokratietagung an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften (DHV) in Speyer im Oktober 2008, initiiert und geleitet vom Staatsrechts- und Wirtschaftswissenschafter Hans Herbert von Arnim. Der Eindruck greife um sich, sagte er einleitend, immer mehr Menschen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen sei der Orientierungskompaß für angemessenes Verhalten verloren gegangen. Arnim stellte den (nötigen) Anspruch und den (tatsächlichen) Mangel an Integrität von Politikern in den Vordergrund. Handelten diese nach Maßstäben von Verantwortungsethik anstelle von Gesinnungsethik, dann leiste das einer Haltung Vorschub, Kritik zu unterdrücken, damit „der guten Sache“ kein Schaden zugefügt werde.

Gesinnungsethik stelle allein auf die innere Gesinnung des Handelnden ab und auf die ethische Sauberkeit der verwendeten Mittel. Der Verantwortungsethik dagegen gehe es um den Erfolg, um dessentwillen notfalls auch unethische Wege in Kauf genommen würden. Dann erschienen zum Beispiel gesetzeswidrige Manipulationen bei der Finanzierung der eigenen Partei, Fraktion und Parteistiftung plötzlich in einem milden Licht. Was eigentlich eine Missetat sei, werde parteiintern bisweilen zu einer Heldentat oder verklärt zu einem Opfer für die gemeinsame Sache. Das führe dann leicht zu einer parteiinternen Sondermoral.

Arnim strich heraus, daß sich der Begriff Integrität nicht nur auf individuelles Verhalten beziehen darf, sondern auch auf Regelwerke zu erstrecken ist. Erst sie ermöglichten es, daß man sich integer verhalte. „Es gibt neben der persönlichen Integrität also auch eine Integrität der Regeln, der Institutionen, der Systeme. Deren Kern besteht darin, dass sie gemeinschaftswidriges Verhalten bestrafen und gemeinschaftsförderliches Verhalten belohnen – und nicht etwa umgekehrt.“ Auch wenn Politiker primär ihre eigenen Interessen verfolgten, müsse das nicht zum Schaden des Ganzen sein. Doch bedürfe es dazu ordnender Regeln, „die egoistisches Verhalten in Richtung auf das Gemeinwohl lenken“.

Arnim vermisst wirksame Regeln dagegen, dass Berufspolitiker ihre Interessen in Gesetze, öffentliche Haushalte und selbst in die Verfassung einfließen lassen. „Sie entscheiden fraktionsübergreifend in eigener Sache. Das zeigt sich bei den Diäten, der Parteienfinanzierung und dem Wahlrecht in klinischer Reinheit.“ Es gebe auch noch immer nicht einen effektiven Straftatbestand gegen Abgeordnetenbestechung. Dabei schrieben dies internationale Konventionen zwingend vor. Ebenso vermisst Arnim wirksame Vorschriften gegen das Wechseln von Beamten und Ministern in gut dotierte Positionen von Großunternehmen, die sich damit für Wohlwollen der früheren Amtsträger erkenntlich zeigen, in Frankreich Pantouflage genannt. Eine regelmäßig ungesühnte Integritätsverletzung sei ferner die Ämterpatronage beim Besetzen von Beamtenstellen. Obwohl nach Grundgesetz und Beamtengesetzen verboten, sei sie an der Tagesordnung.

Ein Fall von Integritätsverstoß ist auch die Schattenwirtschaft. Der Experte auf diesem Gebiet ist der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Georg Schneider (Universität Linz). Er beziffert ihren Wert in Deutschland für 2007 auf rund 349 Milliarden Euro. Das seien 14,7 Prozent des legal erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts. Von 1997 bis 2003 sei die Schwarzarbeit der am stärksten gewachsene Wirtschaftsbereich gewesen. Aber zwei Drittel des schwarz verdienten Geldes flössen in den Kreislauf zurück, gingen in den Konsum, und dabei werde immerhin Mehrwertsteuer fällig.

Schneider bezweifelt, daß sich die Schattenwirtschaft mit strengeren Maßnahmen allein eindämmen läßt. Sie sei ein Massenphänomen, und die Bürger hätten bei der Schwarzarbeit kein Unrechtsbewußtsein. Ein Drittel der Schwarzarbeiter sei auf die Schwarzarbeit angewiesen. Wolle der Staat einen Teil der Schattenwirtschaft in die legale Wirtschaft überführen, müsse er dafür Anreize setzen: die Mehrwertsteuer bei arbeitsintensiven Dienstleistungen befristet rückvergüten, die steuerliche Absetzbarkeit von haushaltsnahen Dienstleistungen und Investitionen im Haushalt ausweiten, die abgabenfreien Verdienstgrenze der Mini-Jobs anheben und (als langfristige Strategie) die Lohnnebenkosten senken. Schneider sieht dies als eine „wirtschaftspolitische Herausforderung“. Nur wenn sie bewältigt werde, würden durch den Rückgang der Schattenwirtschaft mehr legale Vollerwerbsarbeitsplätze entstehen. Nur damit würde die Arbeitslosigkeit zurückgehen. Nur dann wirke sich der Rückgang für die Volkswirtschaft als „Segen“ aus. Entstünden aber zum Beispiel nur mehr Mini- oder Midi-Jobs, bedeute dies zwar einen Teilerfolg, aber für die Sozialkassen könne sich der als ein „Fluch“ auswirken.

Der Philosophie- und Wirtschaftswissenschaftler Karl Homann, der sich mit den philosophischen und ethischen Grundlagen der Ökonomie befaßt, sieht die Wirtschaft in Deutschland in einer tiefen Akzeptanzkrise. In Speyer sagte er: „Wir befinden uns mitten in einer neuen, breitere Bevölkerungskreise erfassenden Systemdiskussion. Politisch rutscht die Republik nach links.“ Der öffentliche Diskurs habe als Ursache die Handlungsmotive der Führungskräfte ausgemacht. Bevorzugte Kategorien, in denen sich der moralische Unmut artikuliere, seien: Egoismus, fehlende Solidarität, Korruption und vor allem Gier.

„Hochrangige Politiker fast aller Parteien stimmen ein in den Chor der Kritiker der Marktwirtschaft,“ sagte Homann weiter, „und auch die Bankenkrise wird als Bestätigung dieser lang gehegten Bedenken wahrgenommen.“ Als Therapie werde darauf gesetzt, das Fehlverhalten moralisch zu skandalisieren und die betreffenden Personen strafrechtlich zu pönalisieren. Homann hält diese Denkweise für „kategorial verfehlt“. Wer bei der ethischen Beurteilung der Marktwirtschaft auf die Motive der handelnden Personen, hier zum Beispiel die „Gier“ der Banker, abhebe, befinde sich auf einem gefährlichen Blindflug. Er kenne die Funktionsweise der Marktwirtschaft nicht und könne deswegen auch nicht ihre Moral beurteilen. Daher könne er auch nicht verstehen, dass Sätze wie „In der Marktwirtschaft dienen die Akteure ihren Mitmenschen aus Eigeninteresse“ oder „Gewinnstreben der Unternehmen ist sozialer als Umverteilen“ ethisch richtig seien.

Für Homann ist Integrität in der Wirtschaft ein Organisationsproblem und kein Problem der individuellen Moral und Motivation. Die moralischen Übel nur natürlichen Personen zuzurechnen, führe zu falschen Diagnosen („Gier“) und zu entsprechend falschen Therapien (Appelle zur Mäßigung). Wohl hätten Führungskräfte persönliche moralische Verantwortung, aber die beste moralische Gesinnung eines Vorstandsvorsitzenden in einem Unternehmen mit zehntausenden und mehr Mitarbeitern ohne eine elaborierte Organisation der Ethik richte gar nichts aus. Die Moral in großen Unternehmen werde von den Organisationstrukturen getragen, nicht von natürlichen Personen. Die Krise hat, wie Homann sagte, moralische Gründe; nicht primär ökonomische.

Damit die Marktwirtschaft, der Wettbewerb und das Gewinnstreben von Unternehmen allgemein akzeptiert, als sittlich geboten und nicht als unmoralisch empfunden oder hingestellt werden, schlägt Homann verschiedene Maßnahmen vor. So sei ordnungspolitisch dafür zu sorgen, Fehlanreize zu vermeiden und die Wirtschaft mit dem notwendigen Regelwerk zu versorgen. Für die neuen Finanzinstrumente (Derivate) zum Beispiel müssten – wie für alle Innovationen – dringend die Regeln nachgebessert werden. Unternehmen seien mit Anreizen zu versorgen, Korruption aufzudecken und zu unterbinden.

Copyright: Klaus Peter Krause

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