Sagen die Kinder Heiligabend noch Weihnachtsgedichte auf? Werden zuhause noch gemeinsam Weihnachtslieder gesungen?
Sagen die Kinder Heiligabend im Kerzenschimmer des Tannenbaums noch Weihnachtsgedichte auf, bevor sie über die ihnen bescherten

Geschenke herfallen dürfen? In der Adventszeit vorher hatten sie sie stets lernen müssen. Werden Heiligabend im Familienkreis vor der Bescherung noch gemeinsam Weihnachtslieder gesungen? In der Adventszeit waren sie stets eingeübt worden. Gibt es für die Kinder noch den Zauber, das Geheimnisvolle des Weihnachtszimmers, das bis zur ungeduldig herbeigesehnten Bescherung verschlossen blieb, bis ein Glöcklein sie hereinrief und der Kerzenglanz des Weihnachtsbaumes ihre Augen zum Leuchten brachte? Erklingt Heiligabend noch weihnachtliche Hausmusik mit Blockflöte, Gitarre, Klavier, Geige oder was immer sonst, ehe die Geschenke zum Auspacken freigegeben sind und das Weihnachtszimmer im Chaos der ungeduldig aufgerissenen Verpackungen versinkt?
Haben sich Alt und Jung in sonntägliche Gewandung gehüllt, wie es dem hohen Anlass gebührt? Hat der weihnachtliche Kirchgang stattgefunden? Schwebt noch über dem allen diese feierliche, festliche Stimmung, die dem Heiligen Abend das erhabene Gepräge gibt und die Sinne erfüllt? In den bürgerlichen Familien ist das über Jahrhunderte so üblich gewesen, im gebildeten Bürgertum ohnehin. Aber mir scheint, dass diese Bräuche auch dort nicht mehr in voller Breite gepflegt werden und allmählich dahinschwinden. Schade. Es ist zum wehmütig werden.
Weihnachten stimmungsvoll eingefangen hat Theodor Storm (1817 bis 1888) in seinem Weihnachtsklassiker-Gedicht „Knecht Ruprecht“. Aber es ist die Stimmung einer schon sehr fernen Zeit, die des 19. Jahrhunderts. Als Kinder mussten wir das Gedicht Heiligabend hersagen können. Meine Enkelkinder (acht bis dreizehn Jahre alt) haben es ebenfalls noch gelernt. Für mich ist es ein Sinnbild für Weihnachten schlechthin. Hier die kurze Fassung des Storm-Gedichts:
Von drauß‘ vom Walde komm ich her;
ich muss Euch sagen, es weihnachtet sehr!
Allüberall auf den Tannenspitzen
sah ich goldene Lichtlein sitzen;
und droben aus dem Himmelstor
sah mit großen Augen das Christkind hervor.
Und wie ich so strolcht durch den finsteren Tann,
da rief’s mich mit heller Stimme an:
Knecht Rupprecht, rief es, alter Gesell,
hebe die Beine und spute dich schnell!
Die Kerzen fangen zu brennen an,
das Himmelstor ist aufgetan,
Alt und Junge sollen nun
von der Jagd des Lebens einmal ruhn;
und morgen flieg ich hinab zur Erden,
denn es soll wieder Weihnachten werden!
So geh denn rasch von Haus zu Haus.
such mir die guten Kinder aus,
damit ich ihrer mag gedenken
mit schönen Sachen sie mag beschenken.
Ich sprach: O lieber Herre Christ,
Meine Reise fast zu Ende ist.
Ich soll nur noch in diese Stadt,
wo’s eitel gute Kinder hat.
Hast denn das Säcklein auch bei dir?
Ich sprach: Das Säcklein, das ist hier,
denn Äpfel, Nuss und Mandelkern
fressen fromme Kinder gern.
Hast denn die Rute auch bei dir?
Ich sprach: Die Rute, die ist hier.
Doch für die Kinder, nur die schlechten,
die trifft sie auf den Teil, den rechten.
Christkindlein sprach: So ist es recht.
So geh mit Gott, mein treuer Knecht!
Von drauß, vom Walde komm ich her,
Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr!
Nun sprecht, wie ich’s hierinnen find:
sind’s gute Kind., sind’s böse Kind?
Ich wünsche allen Lesern einen wunderbaren Heiligabend und zwei schöne Weihnachtstage – geruhsame, fröhliche, stille, erbauliche, friedliche, besinnliche, heitere, gemütliche, selige, genüssliche – wo auch immer, wie auch immer, mit wem auch immer. Genießen Sie diese kurze Zeit – unbeschwert von dem, womit uns die Politik beschwert. Sie, wir alle haben es nötig, denn danach geht alles weiter wie bisher.