Fundsache
„Mit dem Leserbrief von Dr. Edgar Göll in der F.A.Z. vom 19. Mai zum Thema Ukrainekrieg haben Sie endlich mal wieder eine Meinung mit Substanz veröffentlicht, über die es sich lohnt nachzudenken. Der vielen professoralen Leserbrief-Ergebenheitsadressen an Ihre Redaktion in üblicher politisch-korrekten Sprachreglung ist man überdrüssig. Sie erinnern mich als ehemaligen DDR-Bürger fatalerweise an selige DDR-Zeiten! Wer hätte damals daran gedacht, dass es auch in einem freien Land einigen Muts bedarf, eine eigene Meinung im Gegensatz zur allgemein veröffentlichten zu äußern, wenn alle Medien mit einem Tenor publizieren.“
(Leserbrief von Johannes Thiel, Berlin, mit der Überschrift „Wie in der DDR“. FAZ vom 2. Juni 2022, Seite 6)
Immerhin, auch diesen Leserbrief hat die FAZ-Redaktion veröffentlicht, obwohl sie sich sonst vorwerfen lassen muss, an der allgemeinen einseitigen Hetzerei gegen Putin kräftig mitzuwirken. Damit verschafft sie der Zuschrift jenes Lesers Dr. Edgar Göll verdiente weitere Aufmerksamkeit und zusätzliches Gewicht. Dieser hatte sich auf einen Kommentar von FAZ-Mitherausgeber Berthold Kohler bezogen. Darin hatte sich Kohler (am 13. Mai auf Seite1) zu der Äußerung verstiegen : „Die Absichtserklärung der Finnen zur möglichst umgehenden Aufnahme in die NATO lässt Putin ein weiteres Mal wie einen blutigen Amateurstrategen aussehen, der sich hoffnungslos verkalkuliert hat.“
Göll rückte das zurecht und drehte es um: „Tatsächlich scheint Putin sich verkalkuliert zu haben: USA und NATO sind nicht zu einem fairen Frieden (im Sinne von Immanuel Kant) mit dem großen osteuropäischen Nachbarn bereit, sondern expandieren rücksichtslos weiter. Die russische Bevölkerung hat Angst vor dem hochgerüsteten Westen, denn sie sind bereits mehrmals aus dem Westen überfallen und zerstört worden. Daher ist besonders skandalös, dass USA und NATO sämtliche Friedensvorschläge der russischen Regierungen ignorierten – letztmalig am 14. Dezember 2021! Seit 2014 wird die Ukraine von USA und NATO hochgerüstet, so dass die Ukraine zwar nicht in der NATO ist, aber die NATO schon in der Ukraine!
Weshalb ist es so schwer, sich in die schwierige Lage der russischen Seite zu versetzen angesichts dieser Expansion an ihren Grenzen? Wie würden die USA wohl reagieren, wenn China in Kanada große Mengen an Waffen bunkern, Militärstützpunkte aufbauen und Manöver durchführen würde? Es gibt in Washington, Brüssel und Berlin starke Kräfte, die alles zu vernichten gedenken, was nicht nach ihrer Pfeife tanzt. USA und die NATO agieren weltweit und haben schon heute eine gigantische Übermacht gegenüber Russland. Und zudem gilt zu bedenken: Der nächste von den USA ausgemachte Gegner heißt China. Wenn Finnland und Schweden in diesen aggressiven Klub eintreten, der sehr geschickt mit Kreide im Munde spricht, sind sie in eine smarte Falle „made in Washington“ getappt. Und unsere Politiker und Medien leider auch.“
Dass die FAZ-Redaktion beide Briefe veröffentlicht hat, ist erfreulich. Wo sie selbst Lücken lässt, lässt sie diese von klugen Lesern füllen, nun auch einmal in Sachen Ukraine-Krieg. Dem ramponierten Ruf des einst so angesehenen Blattes tut das gut. Bitte mehr davon.