Levitenlese aus der Schweiz

Die Aktionismus-Maßnahmen gegen das Coronavirus in Deutschland – Die NZZ sieht die Verfassungsordnung in Gefahr – „Solche Eingriffe erfordern ein Gesetz und die Zustimmung der Parlamente“ – Absichtlich nutzt die Exekutive das Virus, um die Gewichte zwischen den Verfassungsorganen zu verschieben – „Freiheitsbeschränkungen dürfen nicht der Willkür der Exekutive überlassen bleiben“ – Die gesetzliche Grundlage ist verfassungsrechtlich bedenklich

Von außerhalb sieht man anders auf Deutschland als von innerhalb die Deutschen selbst. Teils werden die Deutschen bewundert, teils belächelt und bespöttelt. Das Bewundern gilt ihren Tugenden (Tüchtigkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Erfindungskraft, technische Leistungen, Kulturgüter) das Belächeln und Bespötteln ihren Absonderlichkeiten (Staatsgläubigkeit, Regulierungswahn, Folgsamkeit, Langmut, Leichtgläubigkeit, Kadavergehorsam). Einen Außenblick auf Deutschland hat jüngst die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) geworfen. Es ist ein kritischer Blick darauf, wie auch Deutschland versucht, das Coronavirus abzuwehren. Der umfangreiche Meinungsbeitrag steht als Aufmacher auf der ersten Seite*) und ist vom Chefredaktor Eric Gujer verfasst. Deutschland müsse mit dem Virus leben lernen. Die deutsche Politik reagiere auf die wieder steigenden Infektionszahlen mit immer neuen Maßnahmen. Doch Aktionismus bringe medizinisch wenig, gefährde aber vor allem die Verfassungsordnung. Gujer liest den Deutschen in Sachen Corona gleichsam die Leviten.

„Solche Eingriffe erfordern ein Gesetz und die Zustimmung der Parlamente“

Die Kritik an den jüngsten Maßnahmen, so Gujer, entzünde sich in Deutschland vor allem an zwei Punkten: an der Durchführbarkeit und dem medizinischen Nutzen. Aber die sehr viel grundsätzlichere verfassungsrechtliche Bewertung bleibe meist unberücksichtigt. Wer sich in Deutschland nicht frei bewegen könne, weil er in anderen Bundesländern einem Beherbergungsverbot unterworfen sei, müsse einen erheblichen Eingriff in seine Grundrechte hinnehmen. Dann Gujers Rüge: „Solch eine schwerwiegende Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit kann nicht durch eine Landesregierung auf dem Weg eines einfachen Verwaltungsaktes ausgesprochen werden. Solche Eingriffe erfordern ein Gesetz und die Zustimmung der Parlamente. Dass sich Bund und einzelne Länder bedenkenlos über Selbstverständlichkeiten der Verfassungsordnung hinwegsetzten, zeigt einmal mehr, welche negativen Auswirkungen die Seuchenbekämpfung auf das Rechtsempfinden hat. Im Lockdown gewöhnte man sich daran, dass die Exekutive weitgehende Kompetenzen beansprucht. Bürger wurden in ihrem Staat eingesperrt, Unternehmen zwangsweise stillgelegt.“

Absichtlich nutzt die Exekutive das Virus, um die Gewichte zwischen den Verfassungsorganen zu verschieben

Zwar sei staatliche Beinahe-Allmacht, so Gujer,  in der Anfangsphase der Pandemie noch vertretbar gewesen im Sinne eines Notstandes. Aber nach acht Monaten Erfahrung mit dem Virus könne niemand mehr von einer akuten Notsituation reden. Wenn die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten weitgehende Maßnahmen verhängten, ohne ihre Parlamente einzubeziehen, so sei das nicht der Not geschuldet. Es geschehe mit voller Absicht. Die Exekutive nutze die Krise, um die Gewichte zwischen den Verfassungsorganen zu verschieben. Es sei eine schleichende Form der Amtsanmaßung.

„Freiheitsbeschränkungen dürfen nicht der Willkür der Exekutive überlassen bleiben“

Dann Gujers Ermunterung: „Die Parlamente und die Bürger dürfen das nicht hinnehmen. Die Opposition fordert seit langem eine angemessene Beteiligung des Bundestages an den Corona-Entscheidungen. Auch die Fraktionen von Union und SPD sollten darauf bestehen, dass Freiheitsbeschränkungen nicht der Willkür der Exekutive überlassen bleiben. Der Freifahrtschein, den sie der Regierung ausgestellt haben, lässt daran zweifeln, dass sie es mit der parlamentarischen Kontrolle sonderlich ernst meinen.“

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem NZZ-Kommentar. Ich empfehle die Lektüre in seiner vollen Länge. Sie finden ihn hier. Der Beitrag ist sehr lesenswert. Ich wünschte mir dergleichen in den deutschen „Leitmedien“.

Die gesetzliche Grundlage der Corona-Anordnungen

Zu ergänzen ist  freilich, dass es auf Bundesebene ein Gesetz durchaus gibt. Es nennt sich „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ und ist am 27. März 2020 veröffentlicht. Das Ganze ist ein sogenanntes Artikelgesetz. Dessen Artikel 1 ändert das bestehende Infektionsschutzgesetz (und einige andere Gesetze), teils befristet, teils unbefristet. Sein Paragraph 5 („Epidemische Lage von nationaler Tragweite“, hier) ermächtigt den Bundesgesundheitsminister (BGM) zu einer Fülle von Anordnungen oder Rechtsverordnungen, ohne dass der Bundesrat zustimmen muss. Dazu befugt ist er nur, wenn der Bundestag eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ feststellt hat. Das hat der Bundestag dann auch sofort getan. Wann diese Lage nicht mehr besteht, entscheidet er ebenfalls. Seine Entscheidung ist im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Die BGM-Ermächtigungen gelten neben den fortbestehenden Befugnissen der Bundesländer. Bis spätestens 31. März 2021 soll der BGM dem Bundestag einen „Evaluierungsbericht“ vorlegen, die Maßnahmen also sach- und fachgerecht bewerten. Seit dem 19. Mai 2020 gibt es auch ein zweites Gesetz, das die Regelungen des ersten präzisiert und ergänzt (hier und hier).

Aber die gesetzliche Grundlage ist verfassungsrechtlich bedenklich

Aber trotz dieser gesetzlichen Regelungen liegt Gujer mit seinen Mahnungen nicht daneben,  denn die Regelungen sind rechtlich umstritten auch in Deutschland selbst. Zu den Warnern gehört gerade auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Er hält die neuen Verordnungsermächtigungen in jenem Paragraphen 5 verfassungsrechtlich für  problematisch, auch wenn der „vielgestaltige Sachverhalt“ dafür spreche, dass die weit und unbestimmt gefassten Ermächtigungen verfassungsrechtlich zulässig seien. Sie stellten einen großen Teil der Regelungen im Infektionsschutzgesetz zur Disposition des Bundesgesundheitsministers und erlaubten erhebliche Eingriffe in Grundrechte. Über diese müsse der Gesetzgeber grundsätzlich selbst entscheiden; er dürfe dies nicht der Exekutive überlassen. Auch stehe es im Widerspruch zum Grundgesetz (Artikel 80, Absatz 2), dass der BGM die Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrats  erlassen dürfe. Letztlich hat der Wissenschaftlich Dienst „erhebliche Bedenken“. Der ganz Text vom 2. April 2020 hier.

___________________________________________________

*)  NZZ-Ausgabe vom Sonnabend, 17. Oktober 2020.

Print

Schreibe einen Kommentar