Der Giftanschlag auf Nawalnyj kommt den Gegnern wie gerufen – Fünf Gründe, warum ein Aus für die Erdgasleitung als Sanktion gegen Russland untauglich ist – Wer könnte an der Tat sonst noch Interesse gehabt haben – Fragen, wem der Anschlag nützt – Gelegen kommt er den USA und osteuropäischen Staaten – Und Putin? Wenn er für Nord Stream derzeit etwas gar nicht gebrauchen kann, dann ist es ein weiterer Giftmord – Die Vorteile der Leitung, zumal für Deutschland, liegen auf der Hand – Warum Nord Stream 2 auch für die EU von Nutzen ist – Überlegungen, wie sich das Verhindern von Nord Stream 2 rechtlich hinbiegen lässt – Der Widerstand gegen die Gasleitung ist seit dem Giftanschlag zu einem Trommelfeuer geworden – Russland wirtschaftlich schaden zu wollen, ist töricht – Würde das Projekt wirklich verhindert, sind die tatsächlichen Folgen letztlich nicht absehbar
Der Giftanschlag auf den Russen Aleksej Nawalnyj kommt den Gegnern der Erdgasleitung Nord Stream 2 wie gerufen. Da ihn der politische und mediale Mainstream der russischen Regierung und dem Präsidenten Wladimir Putin in die Schuhe schieben, füttern jetzt die Gasleitungsgegner ihren Widerstand zusätzlich mit dem Verlangen, Russland zu bestrafen. Als Sanktion dient ihnen der Stopp des Leitungsbaus und damit des gesamten Vorhabens, das weiteres russisches Erdgas nach Deutschland liefern soll.
Erstens aber ist das Verlangen maßlos überzogen, denn der (obwohl schlimme) Anschlag auf einen einzelnen Menschen steht völlig außer Verhältnis zur großen wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der zusätzlichen deutschen und europäischen Energieversorgung.
Zweitens ist der Vorwurf gegen Russland völlig unbewiesen, er ist noch nicht einmal hinreichend plausibel.
Drittens wäre diese Sanktion ein Schuss ins eigene Knie, denn die Erdgasempfänger haben das Geschäft nicht aus reiner Gefälligkeit gegenüber Russland vereinbart, sondern es dient vor allem der deutschen, aber auch europäischen Versorgungssicherheit.
Viertens sind für das Vorhaben Verträge geschlossen, und der Grundsatz pacta sunt servanda sollte für einen Rechtsstaat, als den sich Deutschland und andere EU-Staaten ausgeben, selbstverständlich sein. Auch gilt im deutschen öffentlichen Recht ohnehin der Grundsatz des Vertrauensschutzes.
Fünftens schließlich wäre es hanebüchener Unfug, die Leitung, die schon nahezu fertig verlegt ist, ungenutzt auf dem Ostseegrund rumliegen zu lassen. Einschließlich der Anschlussleitungen am deutschen Festland sind bereits mehr als zehn Milliarden Euro verbaut.*)
Wer könnte an der Tat sonst noch Interesse gehabt haben
Wenn ein regimekritischer Russe in Russland vergiftet wird, kann der russische Staat durchaus dahinter stecken. Es ist jedenfalls nicht unwahrscheinlich: Das Regime hält seinen Kritiker für zu gefährlich, also versucht es, ihn zu beseitigen; dergleichen kommt ja nicht gerade selten vor. Aber kann Russland nicht auch Gründe gehabt haben, einen solchen versuchten Mord lieber nicht zu begehen? Und will denn so gar niemand auf den Gedanken kommen, dass auch Täter mit ganz anderen Absichten hinter dem Anschlag stecken? Wer könnte an der Tat denn sonst noch Interesse haben? Für wen oder für was könnte sie nützlich sein. Es ist die übliche cui-bono-Frage. Der Verein Signal für Deutschland e.V., von rechtsstaatlich gesinnten Bürgern 2017 gegründet, stellt sie sich. Manfred Rouhs, Signal-Gründer und Herausgeber der Signal-Zeitschrift, schreibt:
Wenn Putin für Nord Stream derzeit etwas gar nicht gebrauchen kann, dann ist es ein weiterer Giftmord
„Dann fragen wir doch mal in aller Unschuld: Wem würde ein durch Gift gemeuchelter Alexei Nawalny nützen? Putin sicher nicht. Der legt es in diesen Tagen darauf an, in Sachen des Großprojektes Nordstream 2 den Sack zuzumachen. Es geht um den Verkauf und die Beförderung von 110 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr per Pipeline von Russland nach Deutschland. Das ist kein Pappenstiel, sondern ein volkswirtschaftlich bedeutendes Projekt für Russen und Deutsche – sowie indirekt auch für jeden, der beim Rohstoffexport als Konkurrent Russlands am internationalen Markt auftritt. Für Putin wäre ein Scheitern dieses Projektes ein Debakel, zumal Deutsche und Russen bereits immense Geldmittel in Nordstream 2 investiert haben. Wenn der russische Präsident ausgerechnet jetzt, wo es bei Nordstream 2 ums Ganze geht und die Frage entschieden wird, ob dieses Megaprojekt abgeschlossen oder doch noch verworfen wird, irgendetwas gar nicht brauchen kann, dann ist es ein weiterer Giftmord an einem mehr oder weniger wichtigen Kremlkritiker.“
Politisch ist Nawalnyj für die russische Binnenentwicklung eher unwichtig
Rouhs weiter: „Zudem ist Alexei Nawalny aus patriotischer russischer Sicht eigentlich ein ganz passabler Kerl, wenn man mal von dessen notorischer Selbstüberschätzung absieht. Nawalny versteht sich als ‚nationalistischen Demokraten‘ und nahm führend an mehreren Großdemonstrationen u.a. in Moskau gegen die Massenzuwanderung von Ausländern nach Russland teil. Nach den Maßstäben des deutschen ‚Verfassungsschutzes‘ ist er zweifellos als ‚Rechtsextremist‘ einzustufen. Leider hat er vor etwa zehn Jahren eine größere Geldsumme unterschlagen und wurde deshalb zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Politisch ist er seither für die russische Binnenentwicklung eher unwichtig. Er hatte den Zenit seiner politischen Entwicklung längst überschritten, als ein unbekannter Täter offenbar Gift in seinen Tee mischte.“
Nach alter Sitte fragen: Cui bono – Wem nützt der Anschlag?
Manfred Rouhs zitiert Gregor Gysi. In einem Interview mit dem Mitteldeutschen Rundfunk MDR spekuliere Gysi so: „Es kann ja auch sein, dass es ein Gegner der Erdgasleitung nach Deutschland war. Oder ein beauftragter Gegner, der wusste: Wenn man einen solchen Mord inszeniert, der dann der Regierung in die Schuhe geschoben wird, führt das zur Verschlechterung der Beziehungen.“ Dumm, meint Rouhs, sei diese Bemerkung nicht und ergänzt: „Nawalny könnte in einem internationalen Ränkespiel um Macht und Geld zwischen die Fronten geraten sein. Und wer jetzt mit Blick auf Putin ‚Haltet den Dieb!‘ ruft, der möge sich bitte selbst prüfen und nach alter Väter (und Mütter) Sitte fragen: „Cui bono?“ (Der ganze Beitrag hier).
Nützen würde der Anschlag den USA, wenn als Sanktion das Gasprojekt zu Fall käme
Aber dieses cui bono des Anschlags wird im Mainstream mit seinem Putin-Russland-Bashing gar nicht erst erwogen. Nützen würde ein Aus von Nord Stream 2 ganz besonders den USA. Die nämlich wollen ihr (teureres) verflüssigte Fracking-Gas nach Europa verkaufen, Russland als Konkurrenten ausschalten und Russland ohnehin schaden. Jedenfalls wollen das wirtschaftlich und politisch Mächtige dort. Folglich kommt ihnen der Anschlag sehr gelegen, wenn ihm gegen Russland Sanktionen folgen. Sie haben gegen die zweite Erdgasleitung von Beginn an opponiert. Die erste Leitung (Nord Stream 1) war 2005 beschlossen worden und ist seit 2013 voll im Betrieb. Das amerikanische Sanktionsgesetz von 2017 ermächtigt die amerikanische Regierung zu Sanktionen auch im Zusammenhang mit russischen Erdgasleitungen. Nord Stream 2 ist darin ausdrücklich mit erfasst (FAZ vom 1. März 2018, Seite 7).
Die amerikanische Sanktionsdrohung gegen den Röhrenverleger AllSeas Group
Kurz vor Weihnachten 2019 unterzeichnete der amerikanische Präsident Donald Trump ein Gesetz, das dem Unternehmen AllSeas Group S.A., das die beinahe fertige Leitung mit Spezialschiffen verlegt, empfindliche Sanktionen androht. Dazu gehören die Blockade von Vermögen, die Beschlagnahme von Schiffen und Reisesperren gegen Manager. AllSeas teilte mit, die Arbeit werde sofort eingestellt. (Näheres über AllSeas hier). Die Bundesregierung hatte gegen die Androhung protestiert. Deutschland lehne extraterritoriale Sanktionen ab. „Sie treffen deutsche und europäische Unternehmen und stellen eine Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten dar.“ Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich sagte, die EU und Deutschland seien für Trump offenbar nur „tributpflichtige Vasallen“. (FAZ vom 22. Dezember 2019, Seite 1).
Aber auch osteuropäischen Staaten käme eine Sanktion als Aus für Nord Stream gelegen
Gegen die Gasleitung opponieren aber auch viele osteuropäische Staaten. Ihnen käme eine Sanktion als Ende des Projekts also ebenfalls gelegen. Opponent ist ferner die EU-Kommission. Die meisten osteuropäischen Nato-Länder und die Ukraine empfinden die Leitung als Gefahr. Weil sie ihr Territorium umgehe, werde diese bisherige Route weniger ausgelastet. Die Ukraine argumentiert außerdem, mit Nord Stream 2 entfalle für ihr Land im Konflikt mit Russland eine wichtige Existenzgarantie. Mit der zusätzlichen Ostsee-Leitung könne Russland seine Druckmittel gegen die Ukraine nun ohne Sorgen um sein Gasgeschäft jederzeit wieder verstärken. Andererseits jedoch haben sich Russland und die Ukraine am 20. Dezember 2019 auf einen neuen Transitvertrag geeinigt. Der bisherige lief Ende des Jahres aus. (FAZ vom 22. Dezember 2019, Seite 1). Zusätzlich hat die Bundesregierung als wichtigster Fürsprecher der Gasleitung versprochen, die Leitung nur dann in Betrieb nehmen zu lassen, wenn auch der Gastransit durch die Ukraine sicher sei. (FAZ vom 5. September 2020, Seite 3).
Die Vorteile der Leitung, zumal für Deutschland, liegen auf der Hand
Am Projekt beteiligt sind – unter der Führung des russischen Energiekonzerns Gasprom – fünf Konzerne aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Österreich.**) Insgesamt beteiligt sind mehr als 100 Unternehmen aus zwölf europäischen Ländern (FAZ vom 7. September 2020, Seite 1). Deutschland hat alle Genehmigungen für den Bau und Betrieb der Gasleitung im März 2018 erteilt (FAZ vom 28. März 2018, Seite 17). Von der 1200 Kilometer langen Leitung fehlt nur noch das letzte Zehntel. Die Vorteile, zumal für Deutschland, liegen auf der Hand. Die Gasversorgung aus Russland ist verlässlich; das war sie schon unter der kommunistischen Sowjetunion, die alles andere als ein Rechtsstaat war. Trotz deren Gewaltherrschaft hat man das Gas sanktionslos gerne angenommen. Außerdem ist die Versorgung vergleichsweise preiswert und auch dringend geboten, weil die aberwitzige deutsche Energiewende eine große, überaus teure Lücke in die deutsche Energieversorgung reißt.
Warum Nord Stream 2 der EU nicht schadet, sondern nützt
In einer gemeinsamen Stellungnahme hatten acht CDU/CSU-Abgeordnete aus dem EU-Parlament und dem Bundestag***) 2018 deutlich gemacht, warum Nord Stream 2 nicht schadet, sondern nützt. Es gehe darum, die Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit der Energieversorgung ganz Europas zu verbessern. Daher verfolgt die EU seit Jahrzehnten richtigerweise das Ziel, ihre Gasversorgung zu diversifizieren, sowohl hinsichtlich der Quellen als auch hinsichtlich der Transportwege. Je mehr Gas auf den europäischen Markt gelange, desto höher werde dessen Liquidität. Höhere Liquidität bedeute mehr Wettbewerb. Mehr Wettbewerb führe zu sinkenden Preisen. Von denen würden alle Verbraucher profitieren. Die Leitung sei auch ein Beitrag zur Diversifizierung der Transportrouten. Außerdem werde Russland vom Gasexport nach Europa stärker abhängig als umgekehrt Europa vom russischen Gasimport. Das Fazit der Abgeordneten lautete damals: „Insgesamt lassen die Fakten den Schluss zu, dass Nord Stream 2 durchaus die Versorgungssicherheit und den Wettbewerb stärkt und damit den Zielen der europäischen Energieunion und des Energiebinnenmarkts dient. Wünschenswert wäre es, wenn die Diskussion wieder mehr mit Sachargumenten und weniger mit politischen Parolen geführt wird.“ (FAZ vom 1. März 2018, Seite 10. Siehe auch hier). Dazu gehört, wer alles mit dem russischen Ostsee-Gas versorgt werden soll.****)
Die einseitige Ausrichtung auf die USA bedarf eines Gegengewichts
Ohnehin ist es klug, mit Russland, zumal Weltmacht, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch zusammenzuarbeiten und miteinander ordentlichen Umgang zu pflegen. Russland ist nicht die Sowjetunion. In drei bemerkenswerten staatsmännischen Reden (hier) hat Putin entsprechende Avancen für die Zusammenarbeit gemacht, eine davon gehalten im Bundestag (hier und hier). Die einseitige Ausrichtung Deutschlands und der EU auf die USA ist eher beklemmend als beglückend. Hier bedarf es eines Gegengewichts, zumal Russland geographisch näher liegt. Das haben die USA und besonders Großbritannien schon immer verhindern wollen. Die militärische Macht der USA hat Deutschland und der EU bisher militärische Sicherheit beschert, aber sie auch abhängig gemacht. Und was lange sicher war, muss nicht ewig sicher sein. Sich selbst verteidigen kann Deutschland schon lange nicht mehr. Käme es gar zwischen USA und Russland zum Krieg, fände er wieder auch auf deutschem Boden statt, denn hier sind die gegen Russland gerichteten Raketen in Stellung gebracht.
Der Widerstand gegen die Gasleitung ist seit dem Giftanschlag zu einem Trommelfeuer geworden
Inzwischen hat sich der Widerstand gegen Nord Stream 2 seit dem Giftanschlag auf Nawalny zu einem wahren Trommelfeuer verdichtet. Der Anschlag soll als günstige Gelegenheit genutzt werden. Die Mainstream-Medien wetteifern geradezu darin, sich in Bericht und Meinung auf die Gegner-Seite zu schlagen. Auch die FAZ schwimmt mit (zum Beispiel in der Ausgabe vom 7. September 2020, Seite 1). Sie scheut sich auch nicht, den Verdacht gegen Russland so hinzustellen, als sei er schon bewiesen. Deutsche Politiker, die zuvor für die zweite Gasleitung gewesen sind, kippen unter amerikanischen Druck und unter dem scheinbar bequemen Vorwand, der (angeblich russisch verübte) Giftanschlag auf Nawalny verlange eine harte Reaktion, reihenweise um. Zu ihnen gehören Außenminister Heiko Maas, die Noch-CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sowie Norbert Röttgen und Friedrich Merz, die sich beide um die AKK-Nachfolge im CDU-Vorsitz bemühen.
Merkel ist noch nicht gekippt, wartet wie immer erst einmal ab
Sogar Kanzlerin Merkel, so berichtete die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) am 13. September, habe „die Warnblinkanlage eingeschaltet“. Als es Anfang der Woche in der Bundespressekonferenz um Sanktionen gegen das Projekt gegangen sei, habe ihr Sprecher gesagt, die Kanzlerin glaube, „dass es falsch ist, etwas auszuschließen“. Später vor der Unionsfraktion habe sie dann wissen lassen, sie habe ihre Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen. Sie wartet wie immer erst einmal ab und kippt dann in die Mehrheitsrichtung mit um. An Merkel hatten schon im November 2018 rund hundert Abgeordnete des EU-Parlaments einen offenen Brief gerichtet und sie aufgefordert, Nord Stream 2 zu stoppen; die Leitung spalte Europa. Manfred Weber von der EVP im EU-Parlament hatte in einem Interview mit einer polnischen Zeitung im April 2019 erklärt, er werde „alle möglichen Rechtsmittel anwenden“, um Nord Stream 2 zu verhindern (F.A.Z. vom 25. April 2019). Daraufhin haben sich andere Abgeordnete aus EU-Parlament und Bundestag (s.o.) gegenteilig geäußert: „Nord-Stream2 stärkt Europa“ (hier).
Söder dagegen warnt beim Umgang mit Russland vor „moralischen Rigorismus“
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder dagegen hat vor „moralischem Rigorismus“ im Umgang mit Russland und anderen Ländern gewarnt: „Natürlich können wir uns entscheiden, Nord Stream 2 nicht zu bauen, aber wollen wir das? Das jedenfalls sollten wir uns sehr genau überlegen.“ Söder macht sich, wie er sagte, auch grundlegende Sorgen, wie es in der Russland-Politik weitergehe: „Weder Drohen noch Schönreden hat in der Realität bisher viel verändert. Natürlich kann man Nord Stream 2 aussetzen, aber wenn man wirklich etwas bewegen will, müsste man dann nicht auch ehrlicherweise alle Gasverträge mit Russland kündigen? Welche Folgen hätte dies aber für Deutschland, für unsere Energieversorgung und Energiepreise? Ich habe Verständnis für diejenigen, die das Vorhaben abbrechen wollen. Es war von Anfang an ein umstrittenes Projekt. Aber wir müssen wissen, welche Folgen das hätte. All das gilt es klug abzuwägen.“
Söder: Nicht nur Russland verletzt Menschenrechte, auch China
Söder weiter: „Nicht nur Russland verletzt Menschenrechte. Auch bei China sind erhebliche Zweifel angebracht. Sowohl der Umgang mit Demokratie und Freiheit im eigenen Land als auch ein neues Dominanzstreben erfordern eine ständige Überprüfung. Und tagtäglich stellen viele die Frage: Kann man dort eigentlich noch wirtschaftlich tätig sein? Oder umgekehrt: Kann es sich die deutsche Wirtschaft leisten, dies nicht zu tun? Und wie viele Länder, die uns Öl oder Gas liefern, sind nach unserem Verständnis eine Demokratie? Wir müssen das alles übereinanderlegen. Daher gilt es zum einen, immer wieder auf die Einhaltung unserer freiheitlichen Werte zu dringen, aber nicht die Augen vor den realen Einflussmöglichkeiten Deutschlands zu verschließen.“ (FAZ vom 12. September, Seite 1 und 2).
Auch Laschet und Kretschmer wollen den Anschlag nicht mit einem Ende der Gasleitung verbinden und weitere warnende Stimmen
Die CDU-Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Sachsen, Armin Laschet und Michael Kretschmer, haben ebenfalls davor gewarnt, die Vergiftung Nawalnyjs mit einer Diskussion über das Ende von Nord Stream 2 zu verbinden. (FAZ vom 7. September, Seite 1). Ähnlich und vor Aktionismus warnte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU): Weil Deutschland parallel aus der Atomkraft und der Kohleverstromung aussteige, sei es zumindest für den Übergang auf Gas angewiesen. Eine mahnende kam verständlicherweise auch vom Vorsitzenden des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft, Oliver Hermes: „Auf die Vergiftung Nawalnyjs mit weiteren Wirtschaftssanktionen zu reagieren, die dann wieder an der Sache völlig unbeteiligte Unternehmen und die russische Bevölkerung treffen würden, halten wir für falsch.“ (FAZ vom 4. September 2020, Seite 15).
Wie sich das Verhindern von Nord Stream 2 rechtlich hinbiegen lässt
Überlegungen, wie sich das Verhindern von Nord Stream 2 rechtlich hinbiegen lässt, hat die FAZ ebenfalls wiedergegeben. Danach könnten die EU-Wirtschaftsminister das Projektende auf der Grundlage des Artikels 215 im Vertrag über die Arbeitsweise der EU beschließen. Er sehe vor, dass der EU-Rat „restriktive Maßnahmen gegen natürliche oder juristische Personen“ erlassen könne – also auch gegen Unternehmen wie Gasprom oder Nord Stream 2. Nach Hinweis des Bundeswirtschaftsministeriums könne dieser Artikel tatsächlich die Grundlage für Sanktionsbeschlüsse sein.
Die EU-Sanktionsregelung gegen chemische Waffen
Eine weitere Rechtsgrundlage sei die EU-Sanktionsregelung gegen chemische Waffen. Sie habe gültige EU-Sanktionen gegen die mutmaßlichen Täter und ihre Hinterleute nach dem Attentat auf den einstigen russischen Doppelagenten Sergej Skripal in Salisbury auch schon möglich gemacht. Dieser Ansatzpunkt, so hat der stellvertretende polnische Außenminister Jablonski geäußert, sei auch im Zusammenhang mit Nawalnyj und Nord Stream 2 „die beste Vorgehensweise“.
Die noch fehlende Zertifizierung durch die Bundesnetzagentur
Als dritte Rechtsgrundlage wird als zuständige deutsche Regulierungsbehörde die Bundesnetzagentur ins Visier genommen. Diese habe Nord Stream 2 noch nicht zertifiziert. Zu den Kriterien einer Zertifizierung gehöre „die Energiesicherheit aller EU-Länder, also auch der Länder Osteuropas“. Deshalb müsse die Bundesnetzagentur der Leitung am Ende die Zertifizierung verweigern. Ohnehin sei das in der EU-Gasrichtlinie so vorgesehen. „Falls sich zeigen sollte, dass die deutschen Behörden Russland zu weit entgegenkommen, muss sie ihre Zustimmung verweigern.“ (Alle diese Überlegungen in der FAZ vom 15. September 2020, Seite 8). Aber was ist, wenn es am Beweis von Russland als Täter weiterhin fehlt und erst recht dem Vorwurf an der Plausibilität? Dann muss auch hier gelten in dubio pro reo.
Zwei mögliche „extreme“ Haltungen gegenüber Schurkenstaaten
Ferner war in der FAZ zu lesen: „Zwei extreme Antworten sind jetzt zu hören. Reflexhaft sagen die einen: Mit Verbrechern macht man keine Geschäfte. Das klingt vielleicht erst einmal schlüssig und beruhigt das Gewissen. Übersetzt in die globalisierte Wirtschaftswelt, hieße das dann aber: Bitte direkt alle in China zusammengebauten Handys abgeben, Gasheizungen im Winter nicht aufdrehen und sich auch nicht beschweren, wenn der Arbeitgeber wegen fehlender Nachfrage aus dem Ausland dichtmachen muss. Das kann und will sich Deutschland nicht leisten. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier spricht in dieser Hinsicht Klartext. Es sei klar, ‘dass internationale Handelsbeziehungen nicht allein daran ausgerichtet werden können, wie demokratisch ein Land ist‘, sagte er im F.A.Z.-Interview in diesem Sommer. Wo sollte die Regierung, würde sie rigoros vorgehen wollen, die rote Linie überhaupt ziehen? Ist es schon zu viel, wenn EU-Partner Ungarn den Rechtsstaat schleift? Oder zieht man erst die Reißleine, wenn im Konsulat eines Landes ein unbequemer Journalist getötet und zerstückelt wird? Die andere extreme Antwort lautet, man solle jegliche ethische Standards – also allen voran die Achtung von Menschen- und Bürgerrechten – aus den Wirtschaftsbeziehungen heraushalten.“ (FAZ vom 14. September, Seite 15).
Wandel durch Handel ist das geschicktere Vorgehen, wenn auch nicht zwingend erfolgreich
Die Welt am deutschen und europäischen Wesen (samt ihren immer wieder bemühten „Grundwerten“) mittels Sanktionen genesen zu lassen, ist ja ganz schön, aber auch ganz schön anmaßend. Andere Länder und Völker sind anders, sie leben daher auch nach anderen Maßstäben. Wie sie das tun, sind ihre innere Angelegenheiten, in die sich andere Länder nicht einmischen sollten, aber natürlich frei sein dürfen, ihre Meinungen darüber zu äußern. Was an diesen anderen Maßstäben allgemein (wie vor allem im Völkerrecht) als rechtswidrig gilt, sollte man mit Vorgehensweisen zu erreichen suchen, die diplomatischer und erfolgversprechender sind. Wandel durch Handel ist das geschicktere Vorgehen, zwar auch langwieriger und nicht immer zwingend erfolgreich, aber keineswegs aussichtslos.
Russland wirtschaftlich schaden zu wollen, ist töricht
Das Potential, der russischen Volkswirtschaft mit Wirtschaftssanktionen zu schaden, ist groß: „42 Prozent der russischen Ausfuhren – allen voran Rohstoffe – gingen 2019 in die 27 EU-Länder. Die Union ist wichtigster Abnehmer Russlands und zugleich mit Abstand größter Investor im Land. Dementsprechend hart könnte ein wirtschaftlicher Schlagabtausch das Land treffen. Russland ist hingegen nur fünftwichtigster Abnehmer europäischer Waren.“ (FAZ vom 4. September 2020, Seite 15). Russland wirtschaftlich zu schaden, ist für Deutschland wie für die EU nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch töricht. Allein der wirtschaftliche Schaden wäre weit größer als die verlorenen gut 10 Milliarden, die das Leitungsverlegen schon gekostet hat und dann im wahrsten Sinn des Wortes versenkt worden wären.
Würde das Projekt wirklich verhindert, sind die tatsächlichen Folgen letztlich nicht absehbar, daher ist es zu vollenden
Nach Angaben vom Osteuropa-Verein der Deutschen Wirtschaft und Altkanzler Gerhard Schröder sind 700 Millionen Euro zur Fertigstellung der Leitung gefährdet, insgesamt müssten 12 Milliarden abgeschrieben werden, 120 westliche Unternehmen wären betroffen und europäische Gasverbraucher müssten jährlich 5 Milliarden Euro für das Gas von woanders aufwenden, wenn Nord Stream 2 nicht komme (FAZ vom 2. Juli 2020, Seite 18). Was jetzt aus Nord Stream 2 wird, entscheidet Deutschland maßgeblich mit. Über neue Sanktionen entscheidet mit ihren Institutionen die EU. Würde das Projekt wirklich verhindert, sind die tatsächlichen Folgen letztlich nicht absehbar. Daher ist es zu vollenden.
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*) FAZ vom 13. September 2020, Seite 3.
**) Das Erdgas soll zur Versorgung weiter Teile Westeuropas dienen. Daher sind fünf westeuropäische Energiekonzerne an Projekt Nord Stream 2 beteiligt: Engie aus Frankreich, OMV aus Österreich und Royal Dutch Shell aus den Niederlanden und die beiden Investoren aus Deutschland Uniper, die das Gasgeschäft von Eon übernommen hat, sowie Wintershall-Dea, die mehrheitlich zur BASF gehört.
***) „Nord Stream 2 stärkt Europa“ – Daniel Caspary (CDU) und Werner Langen (CDU), Mitglieder des EU-Parlaments, sowie Joachim Pfeiffer (CDU), Georg Nüßlein (CSU), Hubertus Heil (SPD), Bernd Westphal (SPD), Achim Post (SPD) und Timon Gremmels (SPD), Mitglieder des Bundestages.
****) „Die bis zu 110 Milliarden Kubikmeter Gas, die über beide Ostseepipelines im Jahr nach Deutschland gepumpt werden können, sind mehr, als das Land überhaupt verbraucht. Ein großer Teil der Lieferungen soll weiter in die Tschechische Republik gebracht und dort in das zentraleuropäische Netz eingespeist werden, ein anderer Teil nimmt die Nordroute bis zu den großen Gaslagern an der niederländischen Grenze und darüber hinaus. Das Erdgas soll zur Versorgung weiter Teile Westeuropas dienen.“ (FAZ vom 5. September 2020, Seite 3. „Die Geschichte eines Dramas mit offenem Ende“).
Nawalny geistert schon länger als angeblicher Kreml-Kritiker in Russland herum. Bisher sind die Russen gut mit dieser Globalistenmarionette fertig geworden ohne in umzubringen. Warum sollten sie es nun ausgerechnet jetzt zum taktisch ungünstigsten Zeitpunkt tun? Nein, alle Kompassnadeln zeigen in diesem Fall auf die Wirtschaftsterrorristen in Washington.
Ich habe wegen Nordstream 2 schon seit geraumer Zeit Aktien von Uniper (siehe unter **) und hatte gehofft, dass sich hierzulande der klare Verstand durchsetzt und dass die US-Wirtschaftsterroristen kleinbeigeben. Ich werde wohl eher alt und grau als dass etwas davon geschieht.