Der ganz normale Wahnsinn

Zehn Wochen in Absurdistan – „Nichts geht ohne Politik. Und nichts geht mit Politik“ – Deutsches Schicksal, deutsches Ideal – Das neue Buch von Henning Lindhoff

Die Deutschen sind ein Volk von Reisenden, sagt man. Sie haben viel Urlaub, müssen diese Zeit also irgendwie totschlagen. Sie haben genug Geld, müssen es also irgendwie zurück in den Kreislauf pumpen. Vor allem die Ruheständler wissen nicht, wohin mit den üppigen Renten und Pensionen. Die einen Deutschen reisen in der Heimat herum, die anderen ins nahe oder ferne Ausland. Sie tun das mit dem privaten PKW, mit Bus und Bahn, mit dem Flieger. Auch mit dem Drahtesel. Andere besteigen Riesenschiffe und blühen als Reisende erst dann auf, wenn sie dort zu Hunderten oder Tausenden mit ihresgleichen zusammengepfercht sind. Und dann gibt es ganz andere. Einer dieser anderen ist Henning Lindhoff. Er blieb in der Heimat und las. Er reiste durch Lesen. Daraus wurde ein Buch: Zehn Wochen in Absurdistan.*)

Eine Reise durch den medialen Blätterwald

Im Vorwort gibt Lindhoff einen kleinen Vorgeschmack auf seine Reise: „Es ist schon einige Monate her, dass ich eine Reise tat – eine Reise ohne Rucksack, ohne Wanderschuhe, ohne Auto. Es war eine Reise voller Papier. Eine Reise durch den medialen Blätterwald eines Landes, dessen Menschen in interessanten Zeiten leben. In Zeiten, in denen Politik die letzte große Ressource, der letzte Rohstoff zu sein scheint, der die große Maschine noch anzutreiben vermag. Im Folgenden möchte ich mein kleines Tagebuch dieser Reise präsentieren. In diesem Tagebuch habe ich Schlaglichter meiner Lektüre zusammengetragen, Momente, die es damals wert zu sein schienen, für die Nachwelt festgehalten zu werden. Vielleicht wird sie eines Tages darüber lachen können.“

„Nichts geht ohne Politik, und nichts geht mit Politik“

Man wird sich denken können, welches Land dieses Absurdistan wohl ist. Wem das nicht gleich einfällt, dem hilft die Einleitung auf die Sprünge: „Absurdistan liegt in der Mitte eines Kontinents, der früher einmal unter dem Namen „Europa“ bekannt war. Heute ist dieser Kontinent nur noch unter dem Namen ‚Europäische Union’, kurz ‚EU’, bekannt. Die EU ist ein Kontinent voller Politik. Und Absurdistan – wie könnte es anders sein in der Mitte der EU – steckt ebenso voller Politik. Es ist ein Land der Verwalter. Nichts geht ohne Politik. Und nichts geht mit Politik. Spektakulär ist diese Politik nicht. Es gibt im Gegensatz zu einigen Nachbarländern keinen König oder Fürsten, der die großen, wichtigen Entscheidungen der Macher und Führer blockieren könnte und extremistische Parteien werden auch meist klein gehalten. Gewählt wird relativ regelmäßig, und die Politiker sind durchschnittlich unfähig. Die Haupttätigkeiten der Politiker bestehen aus dem Abschreiben für Doktorarbeiten, dem Eintreiben und Umverteilen von Steuern und dem Zurücktreten. Absurdistan ist Deutschland.“

Reisebeginn 4. Januar, Reiseende 12. März

Henning Lindhoff, Jahrgang 1982, ist stellvertretender Chefredakteur des Nachrichtenmagazins „eigentümlich frei“, Herausgeber einer libertären Lesebuchreihe und Autor einer Studie zum Thema Zwang im Betreuungsrecht. Seine Reise beginnt an einem 4. Januar und endet am 12. März. Aber nicht jeder Tag mit seinem Geschehen ist aufgezeichnet, der eine oder andere wird übersprungen. In welchem Jahr Lindhoff seine Reise unternahm, ist nicht schwer zu erraten. Der Leser wird schon selbst darauf kommen. Es ist in der Tat eine „Reise der etwas anderen Art“. Greifen wir drei Reisetage willkürlich heraus. Als Leseprobe.

Gleichmacherei durch den Länderfinanzausgleich

Beispiel achtzehnter Januar: „Schock! Nur noch drei Bundesländer stemmen den Finanzausgleich. Die Hessen, Bayern und Baden-Württemberger wollen nicht länger Bremer, Berliner und Saarländer durchfüttern. Die Formulierung des Artikels 106 im Grundgesetz, eine „Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse“ sei auch zwischen den Bundesländern erstrebenswert, klingt ganz modern nach Nanny-Staat. Doch Gleichmacherei ist zeitlos. Schon im Dezember 1955 wurde dieser Passus eingefügt. Im Februar wollen Bayern und Hessen Verfassungsklage einreichen. Vielleicht sollten sich Berlin und Bremen nun ein Beispiel am griechischen Finanzministerium nehmen. Dieses fordert aktuell von der Bundesrepublik Reparationszahlungen in Höhe von 162 Milliarden Euro. Grund ist natürlich der Zweite Weltkrieg. Brillant! Neues Promotionskolleg an der Humboldt-Universität zu Berlin. Thema: Bayerns Kriegsverbrechen im Preußisch-Deutschen Krieg. Karin Priester, übernehmen Sie!“

Anonymität für Denunzianten

Beispiel siebter Februar: „Auf Anfrage der Linken hat Gerd Hoofe, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, gestern bestätigt, dass anonyme Denunzianten gegen Bezieher von Arbeitslosengeld II eingesetzt werden. Ergehe eine Anzeige wegen Sozialmissbrauchs gegen einen Jobcenter-Abhängigen, werde diese ohne Wissen des Betroffenen in der Akte vermerkt und vor einer möglichen Akteneinsicht entfernt. „Der Informant hat Anspruch auf Geheimhaltung seiner personenbezogenen Daten. Daher sollen im Regelfall entsprechende anonyme Anzeigen in einem verschlossenen Umschlag in der Leistungsakte aufbewahrt werden. Bei der Gewährung von Akteneinsicht ist diese im Regelfall herauszunehmen“, so Hoofe im Wortlaut.“

MDR-Finanzgeschäfte mit GEZ-Zwangsgebühren

Beispiel elfter März: „Die öffentlich-rechtlichen Staatsfunker scheinen an zunehmender Langeweile zu leiden. Sind die Drehbücher aus Berlin zu monoton? Den Kick suchen sie sich mittlerweile im weltweiten Finanz-Monopoly. Der sächsische Rechnungshof kritisierte den Regionalsender MDR für seine Investments in variabel verzinsliche Wertpapiere. Hochspekulativ seien zudem Investitionen der eingetriebenen Zwangsgebühren in an Libor und Euribor gekoppelte Wertpapiere und die getätigten Geschäfte mit Call-Optionen. Dennoch zeigten sich Vertreter des MDR stolz auf die eigenen Finanzgeschäfte. Trotz der anhaltenden Finanzkrise habe man keine Verluste hinnehmen müssen. Die Anmerkungen des Rechnungshofes wolle man dennoch aufgreifen.“

Absurdistan ist überall

Doch nicht nur Deutschland ist Absurdistan. Abschweifende Reiseblicke, sogar sehr häufig, nach nebenan oder zu EU-Absonderlichkeiten oder über den großen Teich zum heutigen Hegemon zeigen: Deutschland ist nicht allein, die anderen treiben’s nicht anders. Und es ist, kurzum, der ganz normale Wahnsinn. Allüberall. Lindhoff schreibt ironisch, süffisant, kabarettistisch, zuweilen verschroben mit intellektuellem Überlegenheitsgestus.

Vorgerichte und Desserts, aber ohne Hauptgang

Kritische Anmerkungen: Lindhoff beschränkt sich auf Appetithäppchen, auf hingetupfte Spritzer, er serviert die zu verspeisenden Geschehnisse als Vorgerichte und Desserts, aber ohne Hauptgang, reißt alles nur kurz an. Zu kurz, findet Leser Krause, der sich dieses und jenes vertieft gewünscht hätte, um das Absurde von heute noch deutlicher werden zu lassen. Themen wie Papiergeldsystem, Euro-Krise, Schuldenkrise, Einwanderung, Klimaschutzpolitik werden immer nur kurz gestreift. Auch muss man für den vollen Genuss des Gebotenen ganz gut bewandert sein, denn Lindhoff setzt eine Menge an noch nicht verschütteten Kenntnissen über die dargestellten Vorgänge voraus. Gutgetan hätten dem Buch Zwischenüberschriften, die schnell signalisieren, was aufgespießt wird. Ohne sie ermüdet das Lesen. Auch liegt das Jahr 2013 für so eine Sammlung doch schon recht weit zurück; gar viel ist aus heutiger Sicht nicht mehr aktuell und präsent genug. Aus den ersten Monaten des Jahres 2014 hätten sich Absurditäten doch wohl auch zusammentragen lassen, um im Februar 2015 als Buch zu erscheinen.

Deutsches Schicksal, deutsches Ideal

Lindhoffs Einführung in das Buch endet mit einem Zitat von Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1930. „Das deutsche Schicksal: vor einem Schalter zu stehen. Das deutsche Ideal: hinter einem Schalter zu sitzen.“ Das trifft’s wohl immer noch. Hat man „Absurdistan“ gelesen, ließe sich Tucholsky ergänzen. Das deutsche Schicksal: folgsam zu sein. Das deutsche Ideal: dafür gelobt zu werden.
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*) Henning Lindhoff: Zehn Wochen in Absurdistan – Ein Reisetagebuch. Kindle-Edition 2015. Taschenbuch. 186 Seiten. 9,90 Euro. ISBN-13: 978-1508404866.

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Ein Kommentar zu „Der ganz normale Wahnsinn“

  1. “ Vor allem die Ruheständler wissen nicht, wohin mit den üppigen Renten und Pensionen.“
    …das ist mal wieder typisch…so wird weiter Öl in die Flamme gegossen und ein Schlag ins Gesicht derer, die nicht wissen wie Sie mit ihrer mageren Rente über die Runden kommen sollen und der bereits vorhandene Neid und Hass wird weiter geschürt!
    Wollen Sie wissen, warum wir und viele Andere ihrem ehemals schönen Deutschland, zu deren Blüte, wir mit unserer Hände Arbeit verholfen haben,im Rentenalter ins Ausland gehen?…weil wir dort besser überleben können.

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