Sie tragen für andere, was diese vermeiden wollen: das Risiko
Spekulationen gelten als verwerflich, Spekulanten als anrüchig. Aber alle Menschen pflegen zu spekulieren. Sie spekulieren darauf, dass sich ein Geschäft bezahlt macht, dass sie einen Kredit zurückzahlen können, dass sich die Ausbildung lohnt, dass der gewählte Beruf das Auskommen sichert, dass ihre Ehe glücklich wird, dass ihre Kinder wohlgeraten … Sie setzen darauf, dass alles, was sie anpacken, gelingt. Spekulieren ist Alltäglichkeit. Dieses Spekulieren stört niemanden. Alle können es, alle tun es. Also auch die Akteure an den Finanzmärkten, die Händler an den Warenmärkten, die Exporteure, die Importeure, die Sparer, die Investoren. Alle sind sie Geschäftemacher, alle Spekulanten.
Auch die jüngste allumfassende Finanzkrise ist Spekulantenwerk, allerdings ein Spekulantenwerk ganz anderer, eines der wirklich gefährlichen Art. Der Eindruck, hier sei es geradezu kriminell zugegangen, ist keineswegs abwegig. Folglich war auch der politische Ruf nach einer globalen Spekulationssteuer auf alle Finanzgeschäfte schnell zur Hand. Warum sie eine untaugliche Idee ist, habe ich erläutert (siehe meinen Beitrag vom 25. Januar 2010). Nur kurz kam dabei zur Sprache, dass eine solche Steuer nicht nur derartige für die Allgemeinheit hochgefährlichen Spekulationen treffen (und noch nicht einmal verhindern) würde, sondern auch die nützlichen.
Spekulanten erfüllen eine wichtige Aufgabe
Die nützlichen Spekulationen sind sogar notwendig. Trotzdem hat das Wort Spekulant einen schlechten Klang: Spekulanten gehen windigen Geschäften nach, bereichern sich auf Kosten anderer, streichen unverdiente (weil vermeintlich leistungslose) Gewinne ein, fügen damit ordentlichen Leuten Verluste zu. Man sieht sie als Hasardeure, Spielernaturen, Nichtstuer und Drohnen, die anständige Leute ausbeuten. Aber wer so denkt, verkennt, was sie leisten. Sie übernehmen und tragen für andere das Risiko, das anderen zu hoch ist. Damit erfüllen sie für Märkte und Wirtschaft eine wichtige Aufgabe, sind geradezu unentbehrlich.
Der Bedarf, das Preisrisiko zu vermeiden
Das Risiko besteht darin, dass Preise steigen und fallen. Es birgt die Gefahr, dass man etwas zu teuer kaufen oder zu billig verkaufen muss. Wegen dieser Gefahr hat sich das Kaufen und Verkaufen im voraus, aber zur späteren Lieferung entwickelt: das Geschäft auf Termin, das Termingeschäft. Landwirte zum Beispiel, die sich dem Preisdruck entziehen wollen, wenn die neue Weizenernte schlagartig auf den Markt drängt, können mittels Termingeschäft ihren Weizen schon im März verkaufen, wenn er gerade erst ausgesät ist, nämlich „auf Termin“, zum Beispiel für Lieferung im September, und zwar zu dem im März am Markt herrschenden Terminpreis. Damit sichern sie sich einen festen Erlös und eine klare Kalkulationsgrundlage. Auf der anderen Seite haben die Mühlen als Verarbeiter von Weizen ebenfalls einen Preissicherungsbedarf. Folglich versuchen sie, Weizen im voraus „auf Termin“ zu kaufen.
Wer das Preisrisiko übernimmt
Aber Landwirten und Müllern allein fällt es schwer, den geeigneten Vertragspartner zu finden. Auch fehlt es an Mut, zu große Verkaufs- und Kaufrisiken einzugehen. Hier schlägt die Stunde der Spekulanten. Als Risikoträger springen Leute ein, die Geld haben, gleichsam „Spielkapital“, das sie notfalls auch verlieren können. Es sind Leute, die Ware kaufen, die sie selbst gar nicht haben wollen, und Ware verkaufen, die sie gar nicht besitzen.
Börsen erleichtern die Risikoteilung
Erleichtert wird die Risikoteilung durch Waren-Terminbörsen. Hier läuft das Handeln und Spekulieren in organisierter Form nach festen Regeln ab. Außerdem wurden Standardkontrakte entwickelt. Sie lauten auf eine bestimmte Ware in bestimmter Menge und bestimmter Qualität. Damit sind die Waren vertretbare Sachen und die Kontrakte handelbar wie Wertpapiere.
Kauft ein Spekulant einen solchen Kontrakt, dann hat er damit das Recht erworben, die betreffende Ware in der bestimmten Menge zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erhalten. Zugleich hat er sich damit verpflichtet, die Ware zum vereinbarten Preis abzunehmen. Doch bevor es dazu kommt, pflegt er den Kontrakt wieder zu verkaufen, und zwar zu dem dann geltenden Preis – also entweder mit Gewinn oder mit Verlust. Das geschieht zum Beispiel dann, wenn ihm das Risiko zu groß wird oder wenn er einen Preisgewinn realisieren will.
Wo das Risiko übergeben wird
Der Käufer kann ebenfalls ein Spekulant sein oder aber ein Händler oder Verarbeiter, der die Ware wirklich geliefert haben will. So kommt es, dass alle Preisveränderungen bis zum Verkauf an einen wirklichen Abnehmer auf die Kappe der Spekulanten gehen. Für diese Zeit nehmen sie dem Produzenten wie dem Verarbeiter das Preisänderungsrisiko ab. Wird es ihnen zu hoch, können sie den Kontrakt jederzeit wieder verkaufen und das Risiko anderen Spekulanten aufladen, wenn diese es noch für tragbar halten. Ort der Risikoübergabe ist die Warenterminbörse.
Auch das Wechselkurs-Risiko übernehmen Spekulanten
Das Bedürfnis nach Sicherheit und Risikominderung haben nicht nur Produzenten und Verarbeiter von Rohstoffen. Wer für seine Geschäfte Fremdwährungen braucht oder erlöst, will sich dem Wechselkursrisiko entziehen. Und die Gefahr rascher und ausgeprägter Schwankungen von Zinssätzen weckt das Verlangen nach abgesicherten Preisen für Geld und Kapital an den Finanzmärkten. So hat sich die Technik des Warentermingeschäfts auf die Devisen- und Finanzmärkte ausgedehnt. Auch hier sind die Spekulanten zur Stelle, um jenen, die nach Sicherheit streben, den Hedgern (von to hedge: absichern), das Risiko abzunehmen. Und je größer die Zahl der Spekulanten, desto größer für die Hedger das zur Risikoübernahme bereite Angebot. Es ist also falsch, die Spekulantenzahl klein zu halten, sondern gut, möglichst viele Spekulanten zu haben, denn um so nützlicher sind sie.
Die unsichtbare, aber vorzügliche Tücke
Natürlich lassen sich die Spekulanten das Risiko nicht umsonst aufladen und schon gar nicht aus Nächstenliebe oder etwa aus dem Bedürfnis heraus, für Markt und Wirtschaft eine nützliche Rolle zu spielen. Ihr Preis ist der hohe Gewinn, den sie sich aus Preisveränderungen erhoffen. Und das Schöne ist, dass diesen Preis andere Spekulanten entrichten müssen, nämlich jene, die falsch spekuliert und verloren haben: So gerecht geht es an solchen Märkten zu. Sie entrichten diesen Preis in Form ihres Verlustes. Sie nehmen den Preis in Kauf, weil ihre Spekulation auch aufgehen und den erhofften Gewinn abwerfen kann. Es ist also purer Eigennutz, der die Spekulanten antreibt. Aber aus dem Motiv Eigennutz entsteht ungewollt und meist in Unkenntnis des Zusammenhangs das „Produkt“ Gemeinnutz, also ein Nutzen für Wirtschaft und Allgemeinheit. So paart sich, wo es Märkte mit Spekulanten gibt, Nutzen mit Gerechtigkeit. Das ist die heimlich, weil für die meisten nicht sichtbare, aber vorzügliche Tücke jener Einrichtung, die freier Markt heißt.
Mit Besteuern oder Verbieten wäre nichts gewonnen
Alles dies ist zu bedenken, wenn unkundige, aber hibbelige Politiker die Spekulation mit einer Steuer bestrafen oder eindämmen wollen. Spekulation gar zu verbieten, wäre noch törichter. Das Verbot würde auch wenig nützen; es würde umgangen, denn das menschliche Bedürfnis nach Spekulation lässt sich ebenso wenig verbieten wie Hunger und Durst. Es ist vernünftiger, die Spekulation nicht in die Illegalität und Schattenwirtschaft zu drängen, sondern ihr, wie es an allen Börsen geschieht, Regeln zu geben und sie legal dort wirken zu lassen, wo viel Licht ist, Scheinwerferlicht: an Märkten, die für alle offen sind.